So weit war es schon gekommen unter dem dunklen Nachthimmel des San Siro, dass sich Paulo Fonseca nur noch mit schonungsloser Ehrlichkeit zu helfen wusste. Zwei Wochen ist es nun her, jenes 1:3 gegen den FC Liverpool, das die Rückkehr der ruhmreichen AC Milan nach einer Saison Abstinenz in der Champions League markieren sollte – und zum Desaster wurde. Hoffnungslos war Milan den Engländern unterlegen, schonungslos geriet daher die Aufarbeitung des Trainers, der vor einer verblüfften Schar von Journalisten mit einem Hauch von Fatalismus sagte: „Wir haben zahlreiche Probleme.“
Fonseca bemängelte den Charakter seiner Mannschaft nach Widerständen, er sagte, man sei „defensiv fragil“ und das nicht nur gegen Weltklassespieler wie Mohamed Salah. Es klang bereits wie die Aufarbeitung einer kurzen Schaffenszeit, wie die letzten Atemzüge eines Trainers, dessen Nachfolger bereits diskutiert wurden: Namen wie der des ehemaligen Dortmunders Edin Terzic wanderten durch die Zeitschriften, Milans amerikanische Besitzer und ihr Statthalter Zlatan Ibrahimovic würden vor Nichts zurückschrecken, hieß es, auch nicht vor einer schnellen Entlassung.

Mats Hummels in Italien:Signore ’Ummels hat Goethe etwas voraus
Die „Italienische Reise“ des Innenverteidigers beginnt mit einem Auswärtsspiel, bei dem er noch zuschaut: Mats Hummels ist nach einer Sommerpause ohne Verein bei AS Rom angekommen – im Dienste einer Mannschaft, die ihn dringend brauchen kann.
Es gab genügend Argumente dafür: Der Portugiese Fonseca war angetreten, um zu verändern – und hatte das in den ersten Wochen seiner Amtszeit in tragischer Hinsicht geschafft: Milans Mannschaft war ein verwirrter Haufen, die zwei besten Spieler im Kader offen im Clinch mit dem Trainer, und auch die Fans in der Kurve rebellierten. Sie riefen Fonsecas Namen vor den Spielen – wenn überhaupt – nur kleinlaut, das erhöhte die Unruhe im Klub, bei dem zwischen Besitzern und Anhängern ohnehin eine Kluft besteht. Außerhalb der Kurve war das San Siro bei Milan-Spielen überhaupt auffällig leer, sogar gegen einen berühmten Gegner in der Champions League.
Vielleicht hätte es Paulo Fonseca selbst nicht geglaubt, wenn man ihm am Abend dieses 1:3 gesagt hätte, wie die Welt zwei Wochen später aussehen würde. Milans Mister mit Wurzeln in Mosambik hat in seiner Karriere schon vieles gesehen, aber vom Versager zum Helden ist selten jemand so schnell aufgestiegen, selbst im schnelllebigen italienischen Fußball: In der Serie A steht Fonseca mit Milan nach drei Siegen in Serie plötzlich bestens da, vor allem aber sind die Rossoneri endlich Herr in der eigenen Stadt, nach dem 2:1 gegen Inter, einem Derbysieg, auf den sie fast zwei Jahre hatten warten müssen. So gäbe es jetzt eigentlich nur noch einen Fehlstart in der Champions League zu verhindern, um die schwarz-rote Welt in Mailand noch schöner erstrahlen zu lassen.
In der Liga läuft es wieder für Milan, aber in der Champions League droht ein Fehlstart
In der europäischen Königsklasse gastiert man am Dienstagabend frisch aufgeblüht bei Bayer Leverkusen (21 Uhr, Liveticker SZ.de), mit einem Trainer, dessen Trotz sich ausgezahlt hat. „Sie haben mich hierher geholt, um die Art und Weise zu verändern, mit der die Mannschaft Fußball spielt“, hatte Fonseca nach dem katastrophalen Liverpool-Spiel gemeint. Er werde „so weitermachen wie bisher.“
Mutig war diese Aussage des 51-Jährigen, der einige Jahre älter ist als sein Leverkusener Gegenpart Xabi Alonso, 42 – aber dennoch ein ähnlicher Typ Trainer hat. Wie Alonso hat auch Fonseca einen klaren Plan, er will unabhängiger sein von Einzelspielern, das System soll entscheiden. Bei seiner Station in Lille gelang ihm das zuletzt zwei Jahre lang hervorragend, der OSC spielte unter seiner Regie einen modernen, taktisch runden und erfolgreichen Ballbesitzfußball. Das imponierte in Mailand vor allem Ibrahimovic, dem der anpassungsfähige, aber nicht dominante Stil des Fonseca-Vorgängers Stefano Pioli nicht gefiel. Nur lernte Fonseca in Mailand eben auch den größten Feind eines Konzepttrainers kennen: die Zeit.
Idealistische Lösungen oder ein stures Weitermachen hätten in eine sichere Entlassung geführt, weshalb Fonseca sein Talent für Pragmatismus unter Beweis stellen musste – und darin liegt sein wahrer Triumph. Eine Doppelsechs bot er zuletzt gegen Inter und Lecce auf, mit dem Franzosen Youssouf Fofana und dem Niederländer Tijjani Reijnders in der Zentrale des Feldes, während vorn eine Viererreihe wirbelt, angeführt vom formstarken Amerikaner Christian Pulisic. Gemeinsam mit Reijnders sticht Pulisic hervor, es sind die beiden Charaktere, die offensichtlich am meisten von Fonsecas neuer taktischer Schule profitieren.
Der schnelle Wandel ist von einer derartigen Euphorie geprägt, dass Skepsis angebracht wäre. In der Gazzetta dello Sport wurde Fonseca unlängst mit Gian Piero Gasperini verglichen, dem langjährigen Erfolgstrainer von Atalanta Bergamo, der ebenfalls in seiner ersten Saison Startschwierigkeiten hatte – bis aus Bergamo eine Erfolgsgeschichte wurde. Die Hoffnung auf eine ähnliche Rückkehr der AC Milan zu einer prachtvollen, fußballerisch dominanten Erscheinung, sie ruht nun auf Fonseca, dem taktischen Erneuerer, der sich erst mal etwas Ruhe verschafft hat im wilden Auf und Ab der italienischen Fußballwelt, in der man immer wissen muss: Alles kann sich drehen, in nur zwei Wochen.