Süddeutsche Zeitung

AC Mailand:Ein Fischerssohn im Haibecken

  • Gennaro Gattuso soll der AC Mailand als Trainer helfen, bis ein prominenterer Kollege übernimmt - sein Debüt misslingt.
  • Doch das rein Sportliche ist das geringste Problem bei Milan. Die Besitzverhältnisse des Klubs sind beunruhigend nebulös - und niemand kontrolliert.
  • Inzwischen hat sich immerhin die Uefa besorgt wegen der Finanzlage bei Milan erklärt.

Von Birgit Schönau

Wenn die Zeiten normal wären, würde es jetzt heißen: Für Gennaro Gattuso, den alle nur Rino nennen, hat sich ein Lebenstraum erfüllt: Cheftrainer bei der Associazione Calcio Milan, mit noch nicht einmal 40 Jahren, das bedeutet einen gewaltigen Karrieresprung für einen, der erst im Sommer als Coach bei der Jugendmannschaft angefangen hatte. Und der noch gar nicht so lange das Trainerdiplom besitzt, dafür aber schon jede Menge schlechte Erfahrungen. Im schweizerischen Sion hatte Gattuso 2013 begonnen, zunächst als Spielertrainer, dann als Chef. Nach wenigen Monaten zog er weiter, zu US Palermo, italienische Serie B: "Da wurde mir gesagt, wenn du einen Spieler auswählst, der es nicht bringt, gehst du nach Hause." Nach sechs Spieltagen war es so weit.

Gattuso heuerte bei OFI Kreta an, sehr altes Europa, sehr wenig neue Kohle. Zum Weihnachtsgeld für die Spieler steuerte er 50 000 Euro aus eigener Tasche bei, kurz darauf war er selbst schon wieder draußen. In Pisa, vierte Station in zwei Jahren, schaffte er den Aufstieg in die zweite Liga. Die Freudenfeier war kaum vorbei, als klar wurde, dass auch über dem Klub der alten toskanischen Seerepublik schon die Pleitegeier kreisten. Gattuso machte die Lage mit einer flammenden Philippika publik, ging Türen knallend, ließ sich zur Rückkehr überzeugen, stieg nach einem weiteren Jahr mit Pisa wieder ab und zelebrierte einen tränenreichen Abschied: "In dieser Stadt fühlte ich mich geliebt."

Vier Jahre Trainer, nur Pleiten, Pech und Pannen. Und jetzt: Milan, einer der erfolgreichsten Klubs der Welt. Der Mittelfeldterrier Gattuso wurde hier in diesem Klub weltberühmt. In 13 Jahren gewann er jeweils zwei Mal Champions League und Uefa-Cup, holte einen Weltpokal, wurde zweimal italienischer Meister. Derart eindrücklich wühlte und rackerte sich der Sohn eines kalabrischen Fischers an der Seite des coolen Millionenerben Andrea Pirlo durch das Mittelfeld, dass die beiden auch für die Nationalelf unverzichtbar wurden.

73 Einsätze absolvierte Gattuso in der Squadra Azzurra, er wurde 2006 mit Pirlo Weltmeister, doch während der Teamkollege später zu Juventus wechselte und zum Maestro der internationalen Fußball-Hipster avancierte, blieb Rino der Mann fürs Grobe. Ein Ballarbeiter, der von sich selber sagte: "Mir ging's immer darum, so viele Bälle zu klauen wie möglich." Beim Trainingszentrum Milanello eröffnete er ein Fischgeschäft - immerhin war er ja vom Fach -, in dem David Beckham am Eröffnungstag Goldbrassen auswiegen half.

Als Chefcoach beerbt Gattuso Vincenzo Montella, der am Sonntag vor einer Woche nach dem 0:0 gegen den FC Turin gefeuert wurde. Montella, ebenfalls ehemaliger Nationalspieler, coacht seit 2009, er gilt als großes Talent und hat bei seinen Stationen Catania, Florenz und Sampdoria Genua stets schönen Offensivfußball gezeigt. Die Mailänder Klubleitung entließ den 43-Jährigen jetzt mit den Worten: "Wir spielen hier, um zu gewinnen."

Silvio Berlusconis Nachfolger Li soll eine Phosphat-Mine besitzen - Pustekuchen!

Das hatte Montellas Mannschaft in der Liga tatsächlich schon länger nicht mehr getan, der Coach war offenkundig überfordert durch die vielen Zugänge. Den bisher letzten Heimspielsieg errang Milan im September. In der Europa League geht es zwar problemlos in die nächste Runde. Aber in der Serie A reicht es gerade mal für Platz sieben - zu wenig für einen Klub, der im jüngsten Transfersommer 240 Millionen Euro ausgegeben hat, für einen Haufen Spieler, deren Nutzen bis dato noch nicht zwingend erwiesen ist.

Also soll jetzt Rino ran. "Ich hatte ein langes, freundschaftliches und herzliches Telefongespräch mit meinem alten Krieger", erzählte Silvio Berlusconi. Alter Krieger! Wenn der Ex-Padrone des Vereins die Telefonglocke läuten lässt, ahnt man, was die Stunde geschlagen hat.

Nein, die Zeiten bei Milan sind nicht normal. Gattuso ist der siebte Trainer in drei Jahren, unter den geschassten Vorgängern befindet sich sein alter Mannschaftskumpel Filippo Inzaghi. Hier erfüllt sich kein Lebenstraum, es geht um eine Neuauflage des altbekannten Programms: wühlen und rackern! Am Ende muss es nicht Trophäen und Triumphe regnen, ein Platz in der Europa League sollte aber schon drin sein. Gattuso ist eine Übergangslösung, der getreue Rino, ein perfekter Notnagel, bis ein prominenterer Kollege den Laden übernimmt. Antonio Conte etwa, Carlo Ancelotti oder Roberto Mancini - spekuliert wird über die üblichen Verdächtigen. Als ob Milan den biederen Jugendtrainer Gattuso überhaupt zum Chefcoach berufen hätte, wenn man sich derartige Kaliber leisten könnte. Umgekehrt wird wohl eher ein Schuh daraus: Rino, der alte Krieger, soll sich wieder mal für einen Klub abrackern, der mit gefährlicher Geschwindigkeit Richtung Nirwana trudelt.

Dabei wäre das rein Sportliche noch das geringste Problem von Milan. Die Kernfrage ist eher: Wem gehört der Verein eigentlich? Und wie lange noch?

Mitte April verkaufte der bisherige Besitzer Silvio Berlusconi seine Associazione Calcio für 740 Millionen Euro (inklusive rund 200 Millionen Schulden) an die Rossoneri Sport Investment, eine in Luxemburg ansässige Gesellschaft des chinesischen Staatsbürgers Yonghong Li. 31 Jahre lang hatte Milan Berlusconi gehört. Über ihn weiß man, dass er immer noch Italiens größter Buch- und Zeitschriftenverleger ist, der bedeutendste Kinoproduzent und Filmverleiher, dass er 24 Jahre lang die politische Bühne beherrschte und als Regierungschef Italien an den Rand einer Staatspleite führte. Als verurteilter Steuerbetrüger darf Berlusconi eigentlich nicht mehr für das Parlament kandidieren, aber jetzt ist Wahlkampf, und da verspricht er tatsächlich die Abschaffung der Mehrwertsteuer für Hundefutter. Dies und noch viele nicht ganz so wichtige andere Dinge weiß man über Berlusconi.

Über seinen angeblichen Nachfolger Yonghong Li weiß man so gut wie nichts.

Er sei Besitzer einer Phosphat-Mine in China, steht in einem Lebenslauf, den das Klubmanagement verbreitet hat. Aber Pustekuchen mit Phosphat - das recherchierte vor Wochen die New York Times. Präsident Yonghong Li, so fanden die Amerikaner heraus, sei in China ein großer Unbekannter. Zu den 2000 wichtigsten Unternehmern zähle er jedenfalls nicht. Und die Phosphat-Mine sei unauffindbar.

Der US-Hedgefonds Elliott hat rund 300 Millionen Euro beigesteuert - der Zins ist hoch

Genauso mysteriös wie Yonghong Li, der "Präsident in Abwesenheit" (La Repubblica) und sein angebliches Vermögen von 880 Millionen Euro bleibt der Verkaufsprozess an sich. Wieso und mit welchem Geld sollte ein Chinese, der aus dem Nichts kommt, dem Multimilliardär Berlusconi dessen Klub abkaufen? Fest steht, dass der US-Hedgefonds Elliott rund 300 Millionen beigesteuert hat, 183 Millionen an Li, 120 an den Klub, zur Schuldentilgung. Im Oktober 2018 wird Li inklusive Zinsen 383 Millionen zurückzahlen müssen.

Bis dann sind auch die Zahlungen für die vielen Transfers fällig, etwa für Leonardo Bonucci, der für 42 Millionen Euro von Juventus kam und bei Milan nur noch ein Schatten seiner selbst ist. Dabei ist er von allen Neuen mit Abstand der prominenteste. "Wenn es dafür wirklich finanzielle Deckung gibt, hat Milan einen sensationellen Transfermarkt absolviert", stichelte im August die bekannte TV-Journalistin Ilaria D'Amico. Noch während der Sendung wies das AC-Management Trainer Montella an, das Interview mit D'Amico ausfallen zu lassen. Eine Zensurmaßnahme mit Beigeschmack: Die Journalistin ist die Lebensgefährtin von Juve-Torwart Gigi Buffon.

Man fragt sich indes, wieso eigentlich der Ligaverband solche Fragen nach den Milan-Finanzen nicht stellt. Das könnte daran liegen, dass Italiens Profiliga derzeit gar keine Leitung hat. Sie wird kommissarisch immer noch von Carlo Tavecchio verwaltet, der als Verbandspräsident soeben wegen der verfehlten WM zurücktreten musste. Italiens Fußball befindet sich im Chaos. Unglaublich, aber wahr: In einem der größten Klubs des Landes sind die Besitzverhältnisse beunruhigend nebulös - und niemand kontrolliert.

Inzwischen hat sich immerhin die Uefa besorgt wegen der Finanzlage bei Milan erklärt. Die Klubleiter - der Literaturwissenschaftler und ehemalige Ferrero-Manager Marco Fassone und ein chinesischer Mitarbeiter von Li - müssen im Frühling Rechenschaft ablegen. Weil man sich mit dem Ertrag aus dem China-Marketing verrechnet hat (angepeilt waren 90 Millionen jährlich, dabei bringt es selbst der FC Barcelona nur auf 13 Millionen), werden schon jetzt händeringend neue Geldgeber gesucht, die vielleicht nicht ganz so hohe Zinsen verlangen wie Elliott. Goldman Sachs habe abgelehnt, berichtet La Repubblica. Merrill Lynch habe sich bereit erklärt, dem Klub direkt was zu pumpen, nicht aber Mr. Li.

Wenn sich kein Investor findet, geht Milan an Elliott. Der Hedgefonds hat sich seinerzeit ein bisschen an der Argentinien-Pleite gemästet, na und? "Ich habe in gute Hände abgegeben", sagt Berlusconi. Und der Mann lügt nicht, das ist verbürgt - auch wenn man nicht so genau weiß, wessen Hände da im Spiel sind. Im Fernsehen wurde Berlusconi neulich darauf angesprochen, ob er nicht seinen alten Klub zurückkaufen würde. Er sagte nur: "Ich habe die Frage nicht verstanden."

Am Sonntag gab Gattuso, der kleinste Fisch im Haifischbecken Milan, seinen Liga-Einstand. Es ging zu Benevento, einem Aufsteiger, der in 14 Spielen genau null Punkte geholt hatte, Negativrekord aller europäischen Ligen. Gegen Milan holte Benevento dann einen Punkt, 2:2 stand es am Ende, und das Zustandekommen des späten Ausgleich des Aufsteigers ruinierte Gattusos Debüt erst recht. Der Torschütze in der fünften Minute der Nachspielzeit war Alberto Brignoli. Seine Position: Torwart.

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SZ vom 02.12.2017/chge
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