Abstiegskampf in der Fußball-Bundesliga:Es darf geheult werden

Abstiegskampf in der Fußball-Bundesliga: Facetten des Leidens: Der Abstiegskampf hinterlässt Spuren bei Fans, Trainer und Spieler.

Facetten des Leidens: Der Abstiegskampf hinterlässt Spuren bei Fans, Trainer und Spieler.

(Foto: Hangst (3), Kienzler, Hoffmann/Getty; Sohn, Stache/AFP; Seeger, Thissen, Jüttler/dpa)
  • Der Abstiegskampf der Bundesliga verschafft dem Land seit Monaten Genuss und Grusel. In der Bundesliga sind am Samstag noch sechs Vereine bedroht.
  • Wer ihn jetzt endgültig übersteht, wird sich wie ein Meister fühlen. Der Rest fühlt "absolute Leere, Leere, Leere". Sagt Peter Neururer. Und der muss es wissen.
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Von Philipp Selldorf

Am Sonntag wird Andreas "Lumpi" Lambertz wahrscheinlich weinen, er hat es sich zwar nicht vorgenommen - "man kann das ja nicht planen", sagt er -, aber er ahnt, dass es passieren wird. "Auf jeden Fall", weiß er, "wird es sehr emotional werden." Der 30 Jahre alte Mittelfeldspieler sieht seinem unvermeidlichen Abstieg aus der zweiten in die dritte Liga entgegen, doch das ist nicht der Grund für die angekündigten Tränen. Es ist der Abschied von seinem Verein, der ihn bewegt. 13 Jahre hat Lambertz für Fortuna Düsseldorf gespielt, nun geht er zu Dynamo Dresden, weil er dort mehr gebraucht wird als zu Hause am Rhein, wo er zuletzt oft auf der Reservebank saß.

Sein sehr erstaunliches Fußballerleben mit der Fortuna war eine Abfolge von Aufstiegen. "Der Trend war: immer bergauf", sagt Lambertz. Aus der Oberliga Nordrhein in die Regionalliga, in die dritte Liga, in die zweite Liga, in die erste Liga. Bis der 18. Mai 2013 in sein Dasein platzte, der letzte Spieltag der 50. Saison der Fußball-Bundesliga: Aufsteiger Düsseldorf hatte zwar eine stabile Serie von Misserfolgen hingelegt, war den Abstiegsplätzen aber immer ferngeblieben. Nun ging es darum, beim Spiel in Hannover zumindest den Sturz auf Platz 17 abzuwenden, und weil die dort notierten Hoffenheimer in Dortmund antreten mussten, wähnten sich die Fortunen wenigstens sicher vor dem Ärgsten, "man ging natürlich von einem Dortmunder Sieg aus", so Lambertz.

Was dann passierte, hat "Lumpi" in diesen Tagen, da alle seine Memoiren hören wollen, oft erzählen müssen, und er hat sich als versierter Reporter des Grauens erwiesen: "Wir liegen ein paar Minuten vor Schluss 0:3 in Hannover hinten. Das war der Wahnsinn. Erst hört man, du bist raus. Dann Tor in Dortmund. Axel Bellinghausen saß auf dem Boden, und ich sage ihm: ,Jung, wir haben noch eine Chance, wir sind in der Relegation'. Er guckt mich mit tränenunterlaufenen Augen an, und auf einmal höre ich: Doch kein Ausgleich in Dortmund! Erst bist du sicher drin in der Relegation, dann auf einmal abgestiegen. Schlimmer ging es in dem Moment nicht. Diese Pille war ganz schwer zu nehmen."

Hoffenheims Sieg bedeutete Düsseldorfs Abstieg. Trotz all der schönen Stunden beim Klettern bis in die Bundesliga - "dieses Erlebnis war ganz sicher das prägendste in meiner Laufbahn".

An diesem Wochenende wird im deutschen Fußball wieder sehr viel geheult werden, so viel ist sicher. Auf dem Spielplan steht das spannendste Abstiegsfinale in der Liga-Historie - am Samstag in der ersten Bundesliga kann es noch sechs Klubs erwischen, am Sonntag in der zweiten Liga Traditionsvereine wie den TSV 1860 München oder den FC St. Pauli. In den Erstliga-Stadien von Hamburg bis Hoffenheim wird es einerseits zugehen wie auf Begräbnissen und andererseits wie auf Geburtsstationen. Da enden Lebenswege (zumindest vorläufig), dort entsteht neues Leben.

Der Wettstreit am Tabellenende füllt das dramaturgische Loch, das der ausgefallene Titelkampf geschaffen hat

Abstieg - das bedeutet "absolute Leere, Leere, Leere, und dann: absolute Ohnmacht", berichtet der Notarzt Peter Neururer, 60, der in mehr als 25 Dienstjahren manches, aber nicht jedes Leben hat retten können. Beinahe hätte ihm vor sechs Wochen Hannover 96 den nächsten Spezialauftrag erteilt, schließlich erhielt Michael Frontzeck den Vorzug. Neururer hätte sich gern in die heikle, aber immer reizvolle Mission gestürzt, denn der Nichtabstieg, so sagt sein Kollege Friedhelm Funkel, 61, "ist wie eine gefühlte Meisterschaft", das schönste Fußballerglück jenseits der Eroberung von Salatschale und Henkeltopf.

Der Abstiegskampf verschafft dem Land seit Monaten Genuss am Grusel, abermals füllt der Wettstreit am Tabellenende das dramaturgische Loch, das der ausgefallene Titelkampf geschaffen hat.

"Die Deutschen wollen die Leute leiden sehen"

Das Vergnügen an der Not hat Reiner Calmund mal mit der sadistischen Ader der Deutschen erklärt. "Die Deutschen wollen die Leute leiden sehen", hat er behauptet, aber diese bittere These beruht wohl auch darauf, dass er in Leverkusen jenes Leiden mehrmals am fülligen Leib hat erfahren müssen. Außerdem ist Reiner Calmund der einzige Mensch, der tatsächlich weiß, wie das Abstiegsgespenst aussieht, bekanntlich hat er es damals auf seinem Nachttisch sitzen sehen, wenn er nachts aus seinen Albträumen erwachte. Schlimmer noch: Es saß auch in seinem Kühlschrank, wenn er sich vor dem nächsten Albtraum zu stärken suchte.

Die Trainer Neururer und Funkel versichern, sie seien dem Abstiegsgespenst noch nie begegnet. Doch sie wissen, was die ständige Angst vor dem Abstieg aus den Betroffenen macht. "Abstiegskampf ist eine ganz andere Veranstaltung als der gewöhnliche Fußball. Da wird ein Frustrationsmoment eingeläutet, das unvorstellbare Dinge hervorruft. Die Einflüsse aufs Sozialverhalten und auf die Psyche sind ganz schwer einzuschätzen", sagt Neururer. Ruhe bewahren ist dann die oberste Trainerpflicht, doziert Funkel, der es geschafft hat, in mehr als 40 Jahren immer wiederkehrender Abstiegskämpfe gesund und neurosenfrei zu bleiben. 1157 Spiele als Trainer und Spieler haben ihn zum Rekordmann des deutschen Profifußballs gemacht. Mittlerweile hat sich Funkel wieder in Krefeld niedergelassen, wo 1973 alles begonnen hatte, es gehe ihm ausgezeichnet, meldet er.

1989 gab Trainer Peter Neururer den Befehl, mit dem Bus direkt in die prall gefüllte Schalker Arena zu fahren

Im Keller der Liga hat Funkel viele prominente Spieler betreut, Chapuisat und Rolff in Krefeld, Alex Meier und Jones in Frankfurt, Salou und den eisernen Hajto in Duisburg, aber die wertvollsten Spieler waren ihm immer die, auf die er sich in den schweren Stunden im Abstiegskampf verlassen konnte, und das waren nicht die VIPs der Ligageschichte. Er hat sie schnell beieinander: Heintze und Steffen in Krefeld; Emmerling und Töfting in Duisburg; Voigt, Springer und Cullmann junior in Köln; Schur und Spycher in Frankfurt - "das waren die, die immer positiv dachten, für die anderen da waren, keinem Zweikampf und keiner Konfrontation aus dem Weg gingen". Kurzum: "Team-Spieler - so wie ich, wenn ich das mal so sagen darf."

Der Abstiegskampf in Zahlen

Die Tabelle und die aktuellen Paarungen des letzten Spieltags stehen hier.

Neururer fällt zu dem Thema ein Name ein, der auch heute stets gegenwärtig ist. Er denkt an Dietmar Beiersdorfer in dessen Zeit vor zwanzig Jahren beim 1. FC Köln: "Er war eine Leitfigur, hat alles abgeschüttelt - so stabil und souverän hätte er jetzt auch als Vorstandschef beim Hamburger SV sein müssen."

Denn Abstiegskampf kann ja auch beflügeln, "es ist wie in der Tierwelt", sagt Neururer, "ein Hase, der normalerweise einen Antritt von X hat, ist auf einmal doppelt so schnell, wenn er gejagt wird". Abstiegskampf kann sogar schön sein. Auf Schalke empfing Neururer von Rentnern Briefumschläge, in denen Fünfmarkscheine und Münzgeld steckten. Die hatten die Herren am Trainingsplatz gesammelt - als Motivation für die Profis. Aus jener Vorzeit stammt auch Neururers Lieblingsepisode vom Rande des Abgrunds, die von Schalkes Rettung vor dem Abstieg in die dritte Liga handelt.

Der Bus im Schalker Stadion

11. Juni 1989, ein Sonntagnachmittag: Als die Mannschaft anderthalb Stunden vor dem Anpfiff der Partie gegen Blau-Weiß 90 Berlin aufs Parkstadion zusteuerte, gab Neururer dem Busfahrer den Befehl, geradewegs durchs Marathontor in die prall besetzte Arena hineinzufahren und auf der Tartanbahn zu parken. "Du bist verrückt", sagte der Fahrer. "Mach, sonst schmeiß ich dich raus", sagte Neururer. Für die Spieler wurde das Manöver zum erhebenden Moment, wie Ingo Anderbrügge neulich auf einem Nostalgieabend berichtete: "Auf die Gegengerade geguckt - voll. Auf die Südkurve geguckt - auch voll. Nordkurve - sowieso voll." Die Ansprache des Trainers hat daher nicht lang gedauert: "Macht es für die Fans", sagte er, "schaut euch diesen Wahnsinn an."

"Die Glückshormone kann man gar nicht mehr zählen, wenn man es geschafft hat", weiß Friedhelm Funke

Trotzdem hätte die Sache schief gehen können. Nach 27 Minuten gingen die Berliner in Führung, und Neururer schwört, dass damit die leisesten Minuten seines Lebens begonnen hatten. "72 000 Menschen im Stadion, aber du hörtest nichts - nur das Klackern der Stollen und die Tritte gegen den Ball. Bis einer, ein einziger Mann, in der Nordkurve ganz leise anfing zu rufen: Schaaalke. Und auf einmal ging das durchs ganze Parkstadion. Alle haben gemerkt: Wenn nicht jetzt, dann nie mehr." Schalke gewann 4:1, es wurde ein langer Tag. Das Spiel hatte um drei begonnen, "aber abends um zehn", versichert Neururer, "waren noch 20 000 im Stadion".

Möglicherweise ist das eine großzügige Berechnung, aber für Daten und Fakten hat man als Geretteter nicht mehr viel Sinn. "Die Glückshormone kann man dann gar nicht zählen", weiß Friedhelm Funkel, "wenn man es geschafft hat, ist es eine wahnsinnige Erlösung." Drei Erstligisten, die am Wochenende zwischen Hamburg und Hoffenheim spielen werden, stehen also frohe Pfingsttage bevor. Die Anderen werden weinen.

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