Abschied vom Olympiastadion:Rot-blaue Geschichten

Großkopferte, Kuriositäten, Not gegen Elend - ein SZ-Reporter erinnert sich an die Ära Olympiastadion.

Hans Eiberle

Vier Böllerschüsse, da jubelten die Zuschauer bei der glanzvollen Premiere am 26. Mai 1972 im Münchner Olympiastadion. Allesamt von Gerd Müller, beim Länderspiel am 26. Mai 1972, zum 4:1-Sieg der bundesdeutschen Auswahl über die UdSSR. Was Gerd Müller allerdings nicht wusste, sondern bloß zwei Dutzend Eingeweihte: Andere hatten dort vor ihm getroffen.

Abschied vom Olympiastadion: Das vielleicht schönste Stadion der Welt steht in München.

Das vielleicht schönste Stadion der Welt steht in München.

(Foto: Foto: dpa)

Die Premiere vor der Premiere, ganz ohne Feuerwerk, Tschingderassasabum und unter Ausschluss der Öffentlichkeit, war schon Wochen vorbei. Klammheimlich hatten Münchner Sportjournalisten auf dem jungfräulichem Rasen gegen ein Schwabinger Kneipenteam namens Säge gekickt.

Das Resultat ist nicht überliefert, wohl aber ein Foto, auf dem der Reporter scheinbar unaufhaltsam dem Tor entgegen stürmt; er hat es nicht getroffen.

5:1, gegen Schalke

Die Münchner Bayern hatten es eilig, sich im Olympiastadion als Meister feiern zu lassen und ans große Geld zu kommen. Präsident Wilhelm Neudecker erwirkte eine Sondergenehmigung für das letzte Bundesligaspiel der Saison am 28. Juni 1972.

Der FC Bayern besiegte den FC Schalke 04 5:1, 80 000 Zuschauern sorgten für die erste Einnahme-Million der Klubgeschichte beim dritten Titelgewinn. Bis zum Abschied aus dem Olympiastadion am Samstag sammelten sich 19 deutsche Meisterschaften an.

Im Sommer war es angenehm luftig im Olympiastadion. Im Frühling und Herbst kühl und windig, im Winter saukalt und bisweilen stürmisch. Drinnen immer zehn Grad kälter als draußen, eine meteorologische Besonderheit. Quälend für den Ischias die gesäß-unfreundlichen grünen Schalensitze und die kalten Füße auf dem Betonboden.

Gewiss, Sitzkissen helfen. Aber wohin damit, wenn nach dem Schlusspfiff die wilde Jagd nach Interviews los brach? Es war ratsam, den Anzeigenteil der SZ mitzubringen, den dicken Packen Stellenanzeigen unter den Allerwertesten, den Rest als Unterlage für die Füße. Später reichte das nicht mehr für die Isolierung, das Anzeigengeschäft kränkelte.

0:7, gegen Schalke

Die warmen Decken haben sie an der frierenden Journaille vorbei in die Ehrenloge getragen. Haha, wir da unten, ihr da oben. Aber wenn der Wind Regen oder Schnee unter das Zeltdach trieb, kam der Augenblick der Rache des kleinen Mannes. Wir hier oben, ihr da unten. Die Loge liegt tiefer als der Pressebereich, die Großkopferten wurden zuerst nass.

Der Sohn war Bayern-Fan. Er war acht Jahre alt, als ihn der Vater zum ersten Mal mit zur Arbeit nahm ins Stadion. Auch, um ihm zu zeigen, wo er sein musste, wenn andere Väter sich um ihre Söhne kümmerten. Der FC Bayern, mit Maier, Beckenbauer, Müller, Hoeneß, Rummenigge und Trainer Dettmar Cramer, verlor gegen Schalke 0:7. Vier Tore schoss Klaus Fischer. Der Sohn war danach kein Bayern-Fan mehr.

Große Stunden des Fußballs hat das Olympiastadion erlebt. Wie das WM-Finale 1974, als die Bayern Gerd Müller und Paul Breitner das bundesdeutsche Team zum Titel schossen. Aber auch schon mal ohne Münchner Bayern. 1988 bezwangen die Niederlande im EM-Finale die UdSSR 2:0.

Und 1997, als Borussia Dortmund den Europacup gewann, 3:1-Sieg über Juventus Turin, sensationeller Siegtorschütze der 20-jährige Lars Ricken, wenige Sekunden nach seiner Einwechslung.

Der Maier Sepp und die Ente

Auch Schmonzetten sind im Gedächtnis haften geblieben. Etwa, wie der Maier Sepp nach einer über den Rasen watschelnden Wildente hechtete. Oder der Auftritt des Metzger Schorsch.

Umgesäbelt von Herward Koppenhöfer im Zweitliga-Spiel gegen Mainz 05, zog der Sechziger dem verdutzten Schiedsrichter Haselberger die Gelbe Karte aus der Brusttasche und verwarnte den Übeltäter. Der Unparteiische fand die Selbstjustiz gar nicht komisch und schickte Metzger zum Duschen.

Einen Platz im Kuriositätenkabinett hat das verspätete Abschiedsspiel für Peter Radenkovic. Der legendäre Torhüter, 42 und ein bisschen g'wampert, versammelte 1977 die Meisterlöwen '66. Die schlugen vor 30 00 Zuschauer die gerade aus dem Urlaub zurückgekehrte Bundesliga-Aufstiegsmannschaft von 1860 4:1, je zweimal trafen Timo Konietzko und "Atom-Otto" Luttrop.

War Lokalderby, saß die Rote Karte locker. Einmal wurde damit eine Ohrfeige bestraft, 1977 im November, als Not gegen Elend kickte. Der FC Bayern dümpelte auf Platz 14, 1860 war Schlusslicht. In der letzten Spielminute rempelte Karl-Heinz Rummenigge den Sechziger Beppo Hofeditz.

Der fiel um, stand auf und fiel wieder um, weil ihm Rummenigge eine Watschn verpasst hatte. "Rotes Schwein" soll der Blaue den Roten genannt haben. Herbert Scheller traf beim Elfmeter, 1860 gewann 3:1, stieg aber trotzdem ab. Die Bayern retteten sich, auf Rang zwölf.

Als Spiele noch 210 Minuten dauerten

Es geschah auch, dass erst der 20. Elfmeter ein Spiel entschied, nach 210 Minuten Fußball ohne Tor. UEFA-Cup, Achtelfinale, November 1983, Gegner PAOK Saloniki, trainiert von Pal Csernai, vormals FC Bayern. Elfmeterschießen, 8:8 nach 19 Elfmetern, Bertram Beierlorzer wäre als letzter Feldspieler dran gewesen, war aber schlotternd vor Angst in die Kabine geflüchtet. Torhüter Jean-Marie Pfaff half aus und schoss ein, zum 9:8-Sieg.

Was dem im Zugwind des Olympiastadions ergrauten Reporter bleibt, außer der Erinnerung an ein paar hundert Spiele und ein paar Tausend Tore, mit Müllermaierbeckenbauer und Breitnigge, an Triumphen und Tragödien? Ein bisschen Heimweh, gelegentlich Kreuzweh, und den auf das dokumentarische Foto geklebten Splitter aus Pressholz.

Von Jürgen Klinsmann wutentbrannt, weil von Trainer Giovanni Trapattoni zum zwölften Mal ausgewechselt, im Olympiastadion aus einer Werbetonne getreten.

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