Süddeutsche Zeitung

Abschied vom Kapitän:Schluchzen auf der Ehrenrunde

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Der Alterspräsident Bastian Schweinsteiger, 31, wird von Debütanten wie Niklas Süle, 20, die ihn schon als Jugendidol verehrten, in den Nationalspieler-Ruhestand geschickt. Nun ist er ein Stück Geschichte.

Von Philipp Selldorf, Mönchengladbach

Drei Minuten Nachspielzeit. Mancher Zuschauer in Mönchengladbach stöhnte, als die Zugabe verkündet wurde. Es hörte sich an wie die Ansage einer Verspätung. Viele der 30 000 auf den Rängen waren ja nicht im Stadion geblieben, weil sie so gespannt waren, ob es beim Spielstand von 2:0 bleiben und ob Deutschland wirklich die Testpartie gegen Finnland gewinnen würde. Tatsächlich hatte sich der Zweck des Abends bereits in jenem Moment nach knapp 67 Minuten erfüllt, in dem Bastian Schweinsteiger das Zeichen zur Auswechslung erhielt und zum letzten Mal in einem Spiel der Nationalmannschaft den Platz verließ. Ovationen begleiteten ihn und andächtige Blicke seiner durchweg jungen Mitspieler, denen er auf dem Platz wie ein Alterspräsident vorgestanden hatte. Der Rest der Spieldauer stellte demnach bloß noch einen Zeitvertreib dar, bis Schweinsteiger für die finalen Ehrungen wieder von der Bank hervorkommen würde. So geriet die Ehrenrunde des scheidenden Helden samt der vielfältigen Huldigungen durch die Kollegen zum Höhepunkt der auf geglückte Weise zweckentfremdeten Veranstaltung.

Eigentlich sollte dieser Abend der Generalprobe zum Start in die nächste Turnier-Kampagne dienen. Am Sonntag unternimmt der Weltmeister den ersten Schritt in den Versuch, seinen Titel zu verteidigen, gegen Norwegen geht es in Oslo um Punkte in der WM-Qualifikation. "Wir spielen so ein bisschen aus der kalten Hose heraus", stellte der Bundestrainer unter Verweis auf die geringe Wettkampfpraxis seiner Leute fest, einen neuen Fachbegriff in den Diskurs einführend. Die Gelegenheit, seine erste Elf etwas mehr in Übung zu bringen, ließ er jedoch vorsätzlich aus, Priorität hatte für ihn der Abschied von seinem Weggefährten Bastian Schweinsteiger. "Ich war heute natürlich emotional auch sehr stark berührt", sagte Löw, um dann eine funkelnde Hymne auf den Hauptdarsteller vorzutragen. Er pries Menschlichkeit, Ehrlichkeit und Fairness eines "großen Spielers und großen Menschen, der immer die Mannschaft über sein eigenes Ich gestellt" habe - wenn Schweinsteiger das gehört hätte, wäre er gewiss wieder in Tränen ausgebrochen. Bei der Ansprache des DFB-Präsidenten Reinhard Grindel vor dem Anpfiff hatte ihn die Wehmut überwältigt, sein Schluchzen wollte kein Ende finden.

Er habe die Wucht der Gefühle unterschätzt, erzählte Schweinsteiger später. "Ich bin nicht davon ausgegangen, dass es mich so berührt, es ist aus dem Herzen gekommen", sagte er. Schweinsteiger strahlte. Vielleicht war er froh, dass er es hinter sich hatte, eigentlich drängt es ihn nicht so sehr in den Mittelpunkt.

Wie sein Lebenswerk als Nationalspieler schon jetzt auf die Nachwelt wirkt, das konnte Schweinsteiger im Kreis der Mitspieler erfahren. Niklas Süle, 20, gab am Mittwochabend sein Debüt in der Nationalelf, und er verließ ähnlich glücklich den Schauplatz wie der Jubilar selbst. "Ich nehme Momente mit, von denen ich meinen Kindern erzählen kann", schwärmte der Abwehrspieler, der seit seinem Auftritt bei den Olympischen Spielen auch jenseits von Hoffenheim und Zuzenhausen - seinen Dienststellen - Bekanntheit erlangt hat. Die ersehnte Premiere im führenden deutschen Fußballteam war das eine - "und dann noch der Abschied von so 'ner Legende", das war das andere.

"Ich hatte selbst einen Kloß im Hals, als Basti anfing zu weinen", sagte Süle, der sich als Festredner mindestens so gut eignete wie der Bundestrainer und der DFB-Präsident. Er erinnere sich noch genau "an die Nummer 7 im linken Mittelfeld mit gefärbten Haaren", den er als kleiner Junge im Fernsehen gesehen hatte. "Und so, wie ich ihn in den drei Tagen kennengelernt habe, habe ich ihn mir auch vorgestellt. Er ist ein überragender Typ."

Womöglich wird Schweinsteiger also in diesen Stunden gemerkt haben, dass der Rücktritt der einzig richtige Entschluss war, da er nun mit Leuten spielte, die ihn als Jugendidol verehren. Während Süle von seinem Vorhaben berichtete, er wolle im Nationalteam zu einer "größeren Größe" werden (schön gesagt für einen Mann von 1,94 Metern), nahm Schweinsteiger seine schwarze Plastiktüte mit der Spielführerbinde (wird museal verwahrt) und zog sich zu einem Abschiedstrunk mit all den vertrauten Begleitern seiner DFB-Karriere zurück. Als er das Mönchengladbacher Stadion verließ, amtierte er immer noch als Deutschland-Kapitän. Die viel diskutierte Kapitänsfrage hatte Löw an diesem Tag ausdrücklich ausgeklammert, "aus Respekt für den Basti", wie er sagte: "Er war Kapitän im Spiel und soll es bis 24 Uhr bleiben." Eine Sekunde später war der Nationalspieler Bastian Schweinsteiger nur mehr Geschichte. Aber ein Stück deutsche Fußball-Geschichte, das bestimmt nicht vergessen wird.

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SZ vom 02.09.2016
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