Vertigine, zu deutsch: Schwindel, heißt die neue Piste für die Männer, die sie hier für die alpinen Weltmeisterschaften zwischen die Berge gefräst haben, und der Name ist in jeder Hinsicht treffend gewählt. Der Weg zum Start führt über Holztreppen und durch Felszacken hindurch, zwanzig Minuten zu Fuß mit den Skiern auf den Schultern. In der Ferne thronen die weißgescheckten Gipfelkronen des Riserva Statale Somadida. Cortina d'Ampezzo, die Königin der Dolomiten, legt seit Tagen ihr schönstes Gewand an, und der Skirennfahrer Andreas Sander hatte die letzten Meter seines Dienstweges deshalb nicht nur genutzt, um sich zuletzt auf seine Einsätze auf der Vertigine einzustimmen.
Er erachtete es auch als angemessen, "den Wahnsinnsausblick da oben zu genießen", sich dem Gefühl hinzugeben, "welche Ehre es ist, in diesen Zeiten skizufahren." Und dann, sagte Sander, als er am Sonntag zum letzten Mal zum Start stapfte, zur Abfahrt, der Königsübung im Reich der Dolomitenkönigin, sei plötzlich etwas anders gewesen als sonst.
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Kira Weidle wusste schon früh, was sie wollte: nach ganz oben in ihrem rasanten Sport. Die Silbermedaille bei der WM-Abfahrt, die erste für Deutschland seit 1996, ist der vorläufige Höhepunkt in der Karriere der 24-Jährigen.
"Ich habe immer mit mir gehadert", erklärte er später, "weil ich immer im richtigen Moment nicht locker genug geblieben bin." Diesmal habe er gespürt, "dass es was werden kann heute", und dieses Gefühl übersetzte er dann so krachend ins Rennen wie vielleicht noch nie zuvor. Nicht nur für sich, wie der 31-Jährige beteuerte, sondern für alle, "die so viel Vertrauen in mich gesteckt haben die letzten Jahre".
"Das hätte ich mir nie erträumt", sagt Sander
Es war fast schon zu kitschig, wie das letzte Rennen der ersten WM-Woche sein Ende fand. Romed Baumann hatte im Super-G zum Auftakt Silber für den Deutschen Skiverband (DSV) erstanden, Kira Weidle in der Abfahrt nachgezogen. Nun steuerte auch noch Sander einen zweiten Platz bei, die erste deutsche Abfahrtsmedaille seit Florian Eckerts Bronzegewinn bei der WM 2001. Eine lächerliche Hundertstelsekunde fehlte Sander nach 1:37,80 Minuten auf den Österreicher Vincent Kriechmayr, der nach dem Super-G auch in der Abfahrt reüssierte.
Nicht ausgeschlossen, dass Sander deshalb irgendwann noch mal vor Ärger dampfen wird, aber "momentan überwiegt schon die Freude", beteuerte er. Seine besten Erträge waren bislang drei fünfte Plätze im Weltcup gewesen; im Super-G am Donnerstag war er Neunter geworden, wieder knapp daneben. Dass er nun doch noch zum ersten Mal Einlass aufs Podium erhielt, just bei einer WM, "das hätte ich mir nie erträumt", sagte er. Funkelten da etwa Tränen im Augenwinkel? Bei ihm, "von Haus aus jetzt ned so der Emotionale", wie Teamkollege Thomas Dreßen amüsiert berichtete?
So sprießte also die nächste Blüte in einem Reifeprozess, der vor sieben Jahren seinen Anfang genommen hatte. Das Speed-Team der DSV-Männer war damals so überfordert gewesen, dass sie im Verband zumindest debattierten, ob sie in diesem teuren Gewerbe überhaupt noch eine Auswahl subventionieren sollten. Mathias Berthold, der vom hyperverwöhnten österreichischen Verband gerade zum DSV umgezogen war, sah das freilich nicht ein: Er wolle jeden - wirklich jeden - fit für die Weltspitze machen, auch die Abfahrer, was denn sonst? Berthold erwirkte, dass sein Landsmann Christian Schwaiger vom Technik-Team der Frauen ins Schnellfahrer-Ressort versetzt wurde, Schwaiger kassierte ein paar Sprüche dafür, aber seine Lehre war genau das, was dem verunsicherten Team fehlte. Er schulte zunächst die Riesenslalom-Technik, aus der Kurvenfertigkeit erwuchs alles weitere, auch der Glaube, dass jeder in diesem Sport eine Chance hat. 2018 stürmte Thomas Dreßen in Kitzbühel zu seinem ersten großen Erfolg, ein Jahr später gewann Josef Ferstl an selber Stelle den Super-G.
Dreßen streut ein paar Fehler zu viel ein
Sanders Reifung nahm ein wenig mehr Zeit in Anspruch, obwohl er bereits 2008 Junioren-Weltmeister im Super-G war. Man provoziert keine Montagsdemos, wenn man ihn als einstigen Flachländer tituliert, er hat das Skifahren in Ennepetal-Rüggeberg auf einem 330 Meter hohen Hügel erlernt, den sie Teufelswiese rufen - auch wenn es Sander mit 15 ans Ski-Internat nach Berchtesgaden zog und er heute in Oberstdorf heimisch ist. Er war nach Schwaigers Ankunft bald ein oft gesehener Gast unter den besten Zehn, aber mal stoppten ihn Verletzungen, mal fuhren die anderen gnadenloser. Ein wichtiger Impuls, hatte er im Gespräch zuletzt erzählt, sei die Zusammenarbeit mit Andreas Evers, jenem Österreicher, der das Speed-Team vor zwei Jahren von Schwaiger übernahm, nun Cheftrainer im DSV.
Evers moderiere sein Tun etwas ruhiger, aber da sei er "recht ähnlich von der Mentalität her", sagte Sander. Er habe etwa gelernt, seine Betreuer noch mehr an seinem Seelenleben teilhaben zu lassen, und Evers stärkte dabei offenbar jene Kompetenz, an der es Sander bis zuletzt etwas mangelte: dem letzten Funken an Gnadenlosigkeit; dem Mut, sich mal von der Ideallinie zu lösen, die in Wahrheit ja nie ideal ist, weil es die Schnellsten immer auf etwas andere Wege treibt.
Oder wie es Sander jetzt formulierte: "Ich wollte einfach nur mit Spaß und Freude fahren."
Sander hielt sich mit all den Unwägbarkeiten seines Sports zuletzt jedenfalls nicht mehr allzu lange auf: der schlechten Generalprobe in Garmisch-Partenkirchen; die Spitzkehren auf der Vertigine, die die Fahrer vor dem mächtigen Sprung einbremsen sollten; das schlechte Gefühl während seiner Fahrt, weil sich die Skikanten fest in den griffigen Schnee bissen. Aber so erging es am Ende allen Mitstreitern, Dominik Paris, dem Favoriten aus Italien, der als Vierter erneut die erste Medaille für die Gastgeber verfehlte, Dreßen, der als 18. im ersten Rennen nach seiner Hüft-OP ein paar Fehler zu viel einstreute, Baumann, diesmal 14., der bei seinem Sturz im Zielraum eine Gehirnerschütterung erlitt.
Es passte jedenfalls zu diesem deutschen Speed-Kollektiv, dass just der in die Bresche sprang, der immer etwas im Schatten gestanden hatte. Bis zu diesem Sonntag, an dem plötzlich alles anders war.