Abfahrt bei der Ski-WM:Kopfüber in den freien Fall

Ski alpin Weltmeisterschaft

Josef Ferstl aus Deutschland in Aktion.

(Foto: dpa)

Bei der Ski-WM in St. Moritz müssen sogar die Top-Abfahrer am Start schlucken. Wieso macht man sowas? Unterwegs mit dem Pistenbauer Bernhard Russi.

Von Matthias Schmid, St. Moritz

Die letzten Meter nach dem Gondelausstieg sind beschwerlich, die Ski-Rennläufer müssen auf einer Stahltreppe zu Fuß über felsiges Gelände, ihre Skier über die Schulter geschwungen. Es sind genau 187 Stufen hinauf zum Start der Abfahrt in St. Moritz, in 2840 Meter Höhe.

Am Samstag werden Dominik Paris und die anderen berühmten Abfahrer sie nach den Trainingsläufen ein weiteres Mal erklimmen müssen. Der Südtiroler kann sich gut an das erste Mal erinnern, als er ganz oben angekommen war und hinabschaute auf die ersten Meter des Kurses. "Man schluckt erst einmal. Es ist wie der erste Kopfsprung vom Fünf-Meter-Turm", bekennt Paris, der zuletzt in Kitzbühel die gefährlichste Abfahrt der Welt gewonnen hat.

Die WM-Strecke in St. Moritz hat Einiges zu bieten, nirgendwo im Ski-Weltcup geht es steiler los. Wenn sich die Rennläufer mit einem Stockeinsatz hinauskatapultieren, fallen sie erst einmal ins Nichts, sie beschleunigen in nur sechs Sekunden auf 130 Stundenkilometer. "Freier Fall" heißt die Passage, die ein Gefälle von 100 Prozent aufweist - sie ist die steilste Startrampe im alpinen Skisport.

Nervenkitzel gehört zur Dramaturgie

Ein paar Meter weiter oben mussten sie deshalb noch zusätzlichen Platz im Felsen schaffen, damit ein Hubschrauber landen kann. Er kommt immer dann zum Einsatz, wenn ein Rennläufer seinen Lauf abrupt unterbrechen muss - mit der Gondel und zu Fuß würde es zu lange dauern, bis er wieder zum Starthaus gelangt.

Der Nervenkitzel gehört zur Dramaturgie, die Bernhard Russi vor 14 Jahren erschaffen hat. "Ziemlich langweilig", fand er die Weltmeisterschafts-Abfahrt von 1974, die der heute 68-Jährige selbst als Rennläufer erlebte. Viel zu flach sei die Strecke auf der Corviglia gewesen. Seit den Winterspielen 1988 in Calgary hat der Olympiasieger und Weltmeister sämtliche Abfahrtsstrecken auf dem Planeten entworfen. Er ist der Pistenarchitekt im Ski-Zirkus, ein Künstler, Russi vergleicht seine Werke gerne mit denen eines Bildhauers, der vor einem Klotz Holz steht. Sein Klotz sind die Berge, die Felsen. "Jeder hat seine ganz, eigene Charakteristik", sagt Russi, der in der Schweiz seit den siebziger Jahren ein Volksheld ist. So bekannt wie Wilhelm Tell, Roger Federer und Ricola.

Seine Arbeit beginnt, indem er "in den Berg hineinhorcht", wie er es ausdrückt. Er muss das Gelände kennen lernen, spüren, verstehen, über die Landkarte hinaus. Deshalb erkundet er den Berg, auf dem er eine Piste modelliert, am liebsten allein. Er hat über die Jahre ein besonders Gespür dafür entwickelt, was machbar und was Blödsinn ist.

Bei der Abfahrt von St. Moritz waren für den Pistenhauer Russi 2003 nur wenige Handgriffe nötig. Keine Sprengung, kein Bagger, keine Schaufel - ganz anders als in Sotschi, wo er die Olympiastrecke in den Urwald des Westkaukasus schlagen musste. In St. Moritz hatte er alles vorgefunden, was wichtig ist für ein aufregendes WM-Rennen. Ein welliges Gelände mit vielen Sprüngen. Bis auf den Start eben, der ihn 1974 bei der WM so langweilte.

"Das war nur Gleiten und Materialtesten", erzählt Russi: "Überhaupt nicht hübsch. Ich wollte deshalb zu Beginn gleich einen Knaller haben." Also suchte er nach einer innovativen Lösung - und fand sie ein paar Meter weiter oben in den Felsen: "Ich bin hochgeklettert, um zu schauen, ob es theoretisch möglich ist, von da zu starten." Es war komplex, aber machbar. Also ließ er eine Plattform auf dem Fels errichten. Ganz billig war seine Idee nicht. Vier Millionen Franken kostete allein der Bau des "Freien Falls". Deshalb verzichteten die Organisatoren 2003 auch darauf, einen Lift zum Starthaus in den Fels zu bauen.

Russi musste 30 Mal nach Südkorea fliegen

Russi hatte damals den Höhepunkt seiner Karriere erreicht, weil er schaffte, wovon er Jahre lang geträumt hatte: "Ich musste bloß sagen: Lasst es schneien." Für den WM-Kurs von 2017 waren deshalb nur noch ein paar kosmetische Eingriffe nötig. "Die Abfahrt ist ansonsten die gleiche", sagt Russi, "die Kurssetzung ist ein wenig anders, weil sich Material und Fahrstil der Athleten verändert haben."

So unkompliziert ist seine Arbeit nicht immer. Für die Olympia-Abfahrt im nächsten Jahr in Peongchang musste er 30 Mal nach Südkorea fliegen, bis die Strecke in Jeongseon rennfertig war. Allein einen Berg zu finden war herausfordernd, mindestens 800 Meter muss eine Abfahrt laut Reglement an Höhendifferenz aufweisen. In Jeongseon ist die höchste Erhebung nur 1370 Meter hoch, in St. Moritz liegt schon das Dorfzentrum 1822 Meter über dem Meer. "Korea war eine komplizierte Zangengeburt", sagt Russi, "weil so viele Bewilligungen und Verständnis nötig waren."

"Ich wollte etwas Verrücktes machen"

Der schwierigste Job seiner Laufbahn hatte ihn aber in die USA geführt. 1989 in Vail designte er für die WM eine Passage, die als Klapperschlange in die Skigeschichte eingegangen ist, er hat eine künstliche Half Pipe erschaffen, die sogenannte Rattle Snake Alley, eine Art Bobbahn mit vier überhöhten Kurven, die vereist waren. Die harmlose Strecke sollte so aufgewertet werden. "Ich wollte etwas Verrücktes machen", sagt Russi und ermöglichte so den überraschenden Weltmeister-Titel des Deutschen Hansjörg Tauscher.

Die mögliche Gefahr für die Ski-Rennläufer hat er stets im Blick. Russi will die Gesundheit der Athleten mit wilden Sprüngen nicht gefährden. Er fühlt sich noch als einer von ihnen. Russi fasziniert sein Beruf, "weil ich in der Fantasie weiter das tun darf, was ich am liebsten mache: Ski fahren." Deshalb denkt er noch nicht ans Aufhören, obwohl er sein Pensionsalter erreicht hat. Gemeinsam mit Didier Defago plant er die Abfahrt für die Winterspiele in Peking 2022. Den Abfahrts-Olympiasieger von 2010 lernt er als seinen Nachfolger ein. Ob er gut genug ist? "Das wird sich zeigen", sagt Bernhard Russi mit einem Lächeln. Er hat schon eine neue Herausfordung gefunden für das Leben danach. Russi sagt: "Ich würde dann gerne die Mondscheinsonate von Ludwig van Beethoven lernen." Immer etwas Verrücktes eben.

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