"A land shaped by women":Durch Eiswellen und über Stolpersteine

"A land shaped by women": „Es unglaublich schön, die Natur so zu erleben, wie es für jeden passt“: Aline Bock (links) und Anne-Flore Marxer auf ihrer achtwöchigen Erkundungstour in Island.

„Es unglaublich schön, die Natur so zu erleben, wie es für jeden passt“: Aline Bock (links) und Anne-Flore Marxer auf ihrer achtwöchigen Erkundungstour in Island.

(Foto: www.raggieleonora.com)

Gleichberechtigung im Sport: Zwei Snowboarderinnen erzählen das schwere Thema in ihrem Film auf leichte Weise.

Von Johannes Knuth

Zwei Surferinnen paddeln durch die Wellen. Sie klettern auf ihre Surfboards, reiten auf dem Kamm der Welle, trippeln auf ihren Brettern ein paar Schritte nach vorne, aber sie halten die Balance, als seien sie eins mit der Welle. Plötzlich rutscht eine der Surferinnen ab, aber sie ärgert sich nicht, sie versucht im Fallen, eine kleine Pose zu zeigen. Danach klettert sie wieder aufs Board, bis zur nächsten Welle. Sie sind so versunken in ihrem Tun, dass sie gar nicht merken, dass ihre Zehen im kalten Wasser gerade hart werden wie Stein.

Die beiden Surferinnen sind Anne-Flore Marxer und Aline Bock, zwei Profi-Snowboarderinnen und Surferinnen aus der Schweiz und Deutschland. Beide zogen jahrelang durch Wettkampftouren ihres Sports, bis sie irgendwann müde davon waren, dass Frauen es noch immer schwerer hatten als Männer. Sie luden also "alle Spielzeuge", wie Bock im Film sagt, in einen Van, Surfboards, Snowboards, die man mit einem Griff in Skier zum Bergbesteigen verwandeln kann, Zelte, Gaskocher, Kameramann, Fotografin - und nahmen die Fähre nach Island. Acht Wochen reisten sie durch das Land, auch weil sie herausfinden wollten, warum das kleine Island seit Jahren eine der inklusivsten Gesellschaften der Welt stellt. Warum klappte das, was im Snowboarden oft nicht klappte, dort so gut? Was konnte man lernen, für den Sport und überhaupt?

Ein halbes Jahr später sitzen die beiden in einem Café in München, sie sind mit ihrem Film gerade auf Tour, "A land shaped by women" heißt er. Sie waren in Lausanne, Wien und Innsbruck, am Abend ist Premiere in München, bald geht es nach Hamburg, Köln, durch Europa bis in die USA. Marxer, 34, hat zwei wache blaue Augen und blonde Strähnen, die sie sich sehr oft aus dem Gesicht wischt, weil sie nicht nur redet, sondern viele Erzählungen nachspielt, mit viel Engagement. Sie wagte sich mit 16 an ihre ersten Freestyle-Wettkämpfe, damals unter dem Dach von privaten Organisationen wie der TTA, und erlebte schon mal, dass Offizielle sie am Kragen packten und aus einem Hindernisparcours zogen. Weil der angeblich zu schwer für Frauen sei. "Unsere Szene hat damals viele alte, sexistische Muster des traditionellen Sports übernommen", sagt Marxer heute. "Wir waren so neu, man konnte einfach tun, was man wollte. Und weil wir so in der Nische waren, mussten die Verantwortlichen sich nie wirklich mit Kritik auseinandersetzen." Sie schob damals Petitionen an, warb für gleiches Preisgeld, oder dass Frauen überhaupt bei Wettkämpfe mitmachen durften.

In Freestyle-Filmen besiegen oft starke Helden die Natur - das wollten die beiden nicht zeigen

Manches änderte sich, anderes schleppend. Auf der Tour der Freerider etwa, die sich einen steilen Hang im Gebirge hinunterwerfen, kassierten Frauen teilweise halb so viel Preisgeld wie Männer, sagt Marxer. Die Schweizerin gewann 2011 die Gesamtwertung, aber spätestens vor einem Jahr "hatte ich überhaupt keine Freude mehr", erinnert sie sich. "Man hat sich noch immer wie ein Mensch zweiter Klasse gefühlt. Ich habe also Aline am Tag darauf angerufen und gesagt: Ich brauch eine Pause. Willst du mit mir nach Island?"

Aline wollte. Die 36-Jährige, die am Bodensee lebt, hatte sich schon ein paar Jahre früher den Filmproduktionen verschrieben und die Freeride-Tour, die sie 2010 gewonnen hatte, hinter sich gelassen - weil auch sie es satt hatte, wenn sie mal wieder nicht in einer Pressemitteilung erwähnt wurde, als Siegerin des Frauen-Wettkampfs. Es gab nur ein klitzekleines Problem: Die Einfuhr-Bestimmungen für Island sind strikt, Bock hatte bereits knapp drei Dutzend Flaschen für die ganze Crew in ihren Van geschmuggelt und war noch immer skeptisch: Wie sollte das bitteschön für acht Wochen reichen?

Marxer, ihre Begleiterin, hatte sich zuvor ein halbes Jahr lang mit Islands Gesellschaft beschäftigt. Das Land hatte 1975 einen Streik von Frauen erlebt; sie wollten zeigen, wie wichtig ihr Engagement für die Gesellschaft war und schafften das auch: das Land lag fast komplett still. 1980 wählten die Isländer in Vigdis Finnbogadottir eine Präsidentin, als erstes Land überhaupt, weltweit. Finnbogadottir blieb bis 1996 in Amt, und mit ihr eröffneten sich Möglichkeiten auch für jene Frauen, die Marxer und Bock in ihrem Film vorstellen.

Da ist Kata, die Aktivistin, die erzählt, wie sich die Isländer nach dem Finanzcrash von 2008 zusammensetzten und eine ausgewogenere, inklusivere Verfassung ausarbeiteten, die gesellschaftliche Vielfalt als Stärke sah. Zwei Drittel der Bürger stimmten in einer Volksabstimmung dafür, die konservative Opposition blockierte allerdings die Ratifizierung.

Da ist Heida, die 1997 eine Modemarke für Frauen gründete, die heute in 30 Ländern und 1500 Läden verkauft wird und die alle Angestellten gleich bezahlt, Männer und Frauen.

Da ist Vilbor, die einen Kredit für ihre erste Expedition aufnahm, dann als erster isländischer Mensch überhaupt auf dem Mount Everest stand.

Da sind Cristina, deren Familie eigentlich aus Rumänien stammt, und Elisabeth, die sich mit 15 Jahren in Jugendorganisationen engagieren, weil Präsidentin Finnbogadottir einst gesagt hatte: "Was man sehen kann, kann man auch selbst sein."

Und da ist Una, die als Schülerin die Alltagsanfeindungen satt hatte, ihre Gefühle in ein Gedicht goss und damit eine kleine MeToo-Debatte in Island anstieß.

Manche Personen hätte man gerne genauer kennen gelernt, aber das nimmt dem Film nicht seine größte Stärke: Die Protagonistinnen klagen nicht an, sie erzählen, was möglich ist, wenn man sich mit aller Kraft einem Projekt verschreibt. "Was mich an Island fasziniert hat, ist, dass fast jeder dort gesellschaftliche Veränderungen als positiv auffasst", sagt Marxer. "Sie haben verstanden, dass es gut ist, wenn man Probleme anspricht und gemeinsam nach Lösungen sucht, von denen alle profitieren, nicht nur Frauen."

Und Bock und Marxer liefern die sportliche Untermalung dazu: Wenn sie im Schneesturm einen Berg besteigen und bei Sonne den unbefleckten Hang hinuntercarven, wenn sie nachts auf ein Plateau wandern, um die Nordlichter zu sehen, oder wenn sie in einer Landschaft, die von einer Postkarte in die Realität gebeamt zu sein scheint, surfen, bis die Zehen fast abfallen. "Wir wollen mit dem Film auch daran erinnern, warum so viele Menschen den Sport machen", sagt Marxer: "Weil es unglaublich schön ist, die Natur so zu erleben, wie es für jeden passt." Fast alle Filme, für die die Freestyle-Branche bekannt ist, seien sehr männlich, "es gibt immer einen Helden, der wahnsinnig stark ist, sich gefährlichen Bedingungen entgegenstellt und die übersteht", findet Marxer: "Aber wenn du alles aus dieser maskulinen Perspektive erzählst, nimmst du so viele Menschen nicht mit."

Als Marxer und Bock aus Island zurückkehrten, hatten sie zwei weitere Stolpersteine vor sich: Marxer, die als Regisseurin fungierte, hatte so was vorher noch nie gemacht. Und das Budget für ihren Film hatten sie nur mit Mühe zusammengekratzt, vergleichbare Produktionen operieren mit drei- bis vierfach höheren Summen. "Du musst als Frau in unserem Sport oft nicht nur gleich gut sein, du musst noch ein bisschen besser sein", sagt Bock. "Und wenn du Anfänger bist, wie wir, dann trauen sie dir erst mal nicht." Sie stellten dann vor allem Frauen für die Postproduktion an, wollten denen aber auch nicht weniger zahlen; sie wollten die Ungleichheiten nicht an ihre Mitarbeiterinnen weitergeben. Marxer sagt, sie habe von Mai bis zur Fertigstellung im August oft von fünf Uhr morgens bis zwei Uhr nachts gearbeitet, ihre Cutterin stillte nebenbei ihr Baby.

Aber sie schafften es, irgendwie. "Wenn du an so einem Thema arbeitest, ist das Thema irgendwann größer als du selbst", sagt Marxer. Ihr Film wurde mittlerweile bei sieben Festivals prämiert, in St. Anton, Bristol, Kalifornien. Noch wichtiger, sagt Marxer, seien aber die Diskussionsrunden nach den Vorführungen gewesen: Wenn Produzenten, die sie früher nicht an Filmen mitarbeiten lassen wollten, mit großen Augen im Publikum saßen. Oder wenn eine Zuschauerin in München sagte: "Wie kann ich mich selbst engagieren? Wo soll ich anfangen?"

"A land shaped by women" ist ein Film von Frauen geworden, aber nicht nur für Frauen, sondern für alle. Ziemlich isländisch sozusagen.

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