Süddeutsche Zeitung

3:3 im baden-württembergischen Derby:Allen Widerständen zum Trotz

Hoffenheim und Stuttgart liefern sich eines der bislang packendsten Spiele der Saison. Dabei müssen die Hoffenheimer auf sieben Corona-Infizierte verzichten - und die Gäste im Laufe des Spiels ihren herausragendsten Individualisten ersetzen.

Von Christoph Ruf, Sinsheim

Es ist eine bemerkenswerte Randnotiz dieser Pandemie-Saison, dass die Arzt-Praxis des "Querdenken"-Aktivisten Bodo Schiffmann gerade einmal 2,2 Kilometer neben der Sinsheimer Arena liegt. Als die dort beheimatete TSG Hoffenheim am Samstag ihr Heimspiel gegen den VfB Stuttgart bestritt, hatte der Corona-Skeptiker zusammen mit seinem Sidekick Wolfgang Greulich gerade das nahe Pforzheim verlassen, wo die beiden erneut wilde Drohungen gegen die Bundesregierung und den Virologen Christian Drosten zum Besten gaben. Schließlich hätten die das Land aus reiner Boshaftigkeit in eine Covid-Paranoia gestürzt.

Ohne sieben Corona-infizierte Spieler lief dann um 15.30 Uhr die TSG auf, nachdem sich der Stadionsprecher Minuten zuvor erfreut darüber gezeigt hatte, dass man trotz der Ausfälle von Kevin Vogt, Sebastian Rudy, Ishak Belfodil, Robert Skov, Munas Dabbur, Jacob Bruun Larsen und Sargis Adamyan immerhin selbst "die Ersatzbank vollbekommen" habe. Ein Understatement, das um 15 Uhr 29 sehr nachvollziehbar und zwei Stunden später fast kokett wirkte. Denn nach dem Spiel konnte man sich kaum vorstellen, dass eine Hoffenheimer Mannschaft, die auf alle Stammkräfte hätte zurückgreifen können, sich mit dem erstaunlichen Aufsteiger eine noch unterhaltsamere Partie hätte liefern können. "Die Art und Weise, wie wir in der zweiten Hälfte aufgetreten sind, macht mich stolz", sagte TSG-Trainer Sebastian Hoeneß. "Das ist überhaupt nicht selbstverständlich." Eigentlich wollten die Hoffenheimer das Spiel erst verschieben, doch die DFL lehnte das Gesuch in der vergangenen Woche ab.

Stuttgarter Tempofußball - und eine beeindruckende Dominanz

Im ersten Durchgang schien es dann, als sei dem Stuttgarter Tempofußball an diesem Nachmittag überhaupt nicht beizukommen. Nach 45 Minuten hätte es höher als nur 2:1 für den Gast stehen können, doch Hoffenheims Torwart Oliver Baumann war da, als ihn sein Team brauchte: Silas Wamangituka hatte das 3:1 auf dem Fuß (39.). Die beiden Tore, die Baumann nicht verhindern konnte, waren davor mit einem Selbstbewusstsein herausgespielt worden, das handelsübliche Aufsteiger sonst in der Regel nicht auf den Platz bringen. Nachdem Christoph Baumgartner nach unfreiwilligem Doppelpass mit Stuttgarts Waldemar Anton die TSG-Führung erzielt hatte (16.), glich Stuttgarts Nicolas Gonzalez mit einem satten Linksschuss aus (18.). Dessen Abschluss war dabei allerdings nicht so spektakulär wie die Art und Weise, wie er zuvor drei Gegenspieler hatte stehen lassen.

Auch das zweite Gäste-Tor diente als Anschauungsmaterial für die Art und Weise wie VfB-Coach Pellegrino Matarazzo sein Team offensiv agieren sehen will: Der druckvolle öffnende Pass von Tanguy Coulibaly, die Flanke von Daniel Didavi, der Lattentreffer von Gonzalez, der Pfosten- und der Nachschuss von Wamangituka zum 2:1 - all das lief innerhalb von fünf, sechs Sekunden ab. Und damit viel zu schnell, als dass es effektiv zu verhindern gewesen wäre.

Beim 2:2 gegen Eintracht Frankfurt, am letzten Spieltag vor der Länderspielunterbrechung, hatte der VfB im ersten Durchgang ähnlich berauscht gespielt - und seine Führung noch aus der Hand gegeben. Damals hatte in der zweiten Hälfte ein Kräfte-Abfall seinen Tribut gefordert, diesmal war es die verletzungsbedingte Auswechslung von Gonzalez (37.), die einen Bruch im Stuttgarter Spiel verursachte. Der Argentinier hatte sich bei der Entstehung des zweiten Treffers das linke Knie verdreht, eine längere Verletzungspause des vielleicht besten Individualisten im Team würde die Schwaben schwer treffen. "Sehr wahrscheinlich ist das Innenband angerissen", fürchtete Trainer Matarazzo schon nach dem Spiel. "Dann würde es ein paar Wochen dauern, bis er wieder auf dem Platz stehen kann."

Schon in Hoffenheim war nach seiner Auswechslung kaum mehr etwas, wie es vorher war: Ryan Sessegnon, ein 20-jähriger Engländer, der als Teenager die feinen Schulen von Fulham und Tottenham durchlaufen hat, war so frei, das 2:2 zu schießen (48.), dem Andrej Kramaric kurz darauf das 3:2 per Foulelfmeter folgen ließ (71.). Wer den ersten Durchgang vergessen hatte, konnte es nur logisch finden, dass nun die erstaunlich willensstarken Hoffenheimer als Sieger den Platz verlassen würden. Wer das Große und Ganze der 90 Minuten in Blick hatte, musste das von Marc Oliver Kempf in der Nachspielzeit bewerkstelligte 3:3 (90.+4.) als gerechtes Ergebnis eines spektakulären Spieles werten.

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