20. Pokalsieg der Bayern:Visitenkarte für Europa

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Nach dem phasenweise beeindruckenden 4:2 gegen Leverkusen schickt Trainer Flick seine Spieler in den Urlaub. Sobald sie vom Strand zurück sind, werden sich die Münchner für die Champions League präparieren.

Von Klaus Hoeltzenbein, Berlin

Lasst ihn fliegen: Münchens Trainer Hansi Flick wird von seinen Spielern gefeiert. (Foto: ROBERT MICHAEL/AFP)

Warum der Abend etwas von einem Oktoberfest im Juli hatte? Nicht nur, weil sich Hansi Flick plötzlich in der Berliner Luft befand und sich wunderte, wie er dorthin gekommen war: "Ich wusste gar nicht, dass meine Mannschaft so stark ist, dass sie dieses Gewicht hochkatapultieren kann." Sondern auch, weil er dort oben etwas genießen konnte, was derzeit wenigen vergönnt ist, denn auch am nahegelegenen Flughafen Tegel wurde der Betrieb massiv runtergefahren. Es sei schön gewesen, "auch mal so ein bisschen zu fliegen". Der Trainer des FC Bayern lag quer und hoch in der Luft wie 2013 dort Jupp Heynckes, den Flick sein Vorbild nennt, und der damals neben Meisterschaft und Pokal sogar die Champions League gewinnen konnte.

Schon zuvor besaß der Berliner Abend einen Volksfestcharakter, weil es ein munteres Scheibenschießen war, das 4:2 (2:0) im Cupfinale gegen Bayer Leverkusen, für das es am Ende nicht nur den Goldpokal gab, der mächtig wie ein Riesen-Wiesn-Teddy ist, sondern auch noch einen exklusiven Sonderpreis obendrauf. Das Trainerteam habe einen Beschluss gefasst, bestätigte Flick auf der Pressekonferenz: Es gebe jetzt 13 Tage Urlaub, also noch einen Tag mehr, als ursprünglich versprochen war.

Allzu leicht dürfte Flick dieser Bonus nicht gefallen sein. Es ist ja noch einiges zu erledigen in dieser Spielzeit, in der alle Termine von einem Virus durcheinander gewirbelt wurden. Und daran, dass jetzt noch etwas folgt, was relativ groß werden könnte, trägt der Überflieger vom Samstagabend mehr als nur die Mitschuld. Ist es doch vornehmlich diesem "Menschenfänger" (Lothar Matthäus) zuzuschreiben, dass aus jener zerzausten Truppe vom Herbst 2019, als Flick sein Amt von Niko Kovac übernahm, ein Triple-Kandidat werden konnte. Also eine Mannschaft, der zugetraut wird, alles gewinnen zu können, auch die Champions League, deren Endrunde vom 12. bis 23. August in Lissabon ausgespielt wird. Besonders die erste Halbzeit, die die konzentrierteste, konsequenteste war, die eine deutsche Elf in dieser Saison unter Stress zeigte, war eine Visitenkarte mit Büttenrand für Europa.

Man fühlte sich ans Oktoberfest erinnert, ans Karussell, auf dem den Gegnern schwindlig wird

Flog den Abend an der Musik vorbei: Leverkusens Torwart Lukas Hradecky streckt sich vergeblich nach David Alabas Freistoß. (Foto: POOL/REUTERS)

Ein Tag mehr Urlaub, bevor die Schufterei für Portugal losgeht - diesen Sonderpreis hatten sich die Münchner verdient mit ihren vier Treffern, und besonders diesem schrägen dritten Tor. Beim 1:0 (16.) rauschte ein Freistoß von David Alaba mit feinem Effet ins Netz; beim 2:0 (24.) landete dort ein verzinkter Schrägschuss von Serge Gnabry. Zu jener Zeit fühlte man sich bereits ans Oktoberfest erinnert, ans Kettenkarussell, auf dem die Münchner zur flotten Fahrt einluden, während den Gegnern schwindelig wurde und sie verzweifelt nach den Haltegriffen suchten. Kurz nachdem sich die Leverkusener in der Halbzeit gesammelt hatten, flinke Angriffe starteten, denen nur der letzte Tick, die letzte Präzision fehlte, folgte der Schockmoment: jenes Zwei-Stationen-Tor der Münchner, das groß in die Geschichte des DFB-Pokals eingehen wird, obwohl im offiziellen Spielbericht hinter der Zuschauerzahl pandemiebedingt das Wort "Keine" vermerkt werden musste. Der Torwart, Manuel Neuer, drosch den Ball zielgenau nach vorne, der Zentralstürmer, Robert Lewandowski, pflückte ihn kunstvoll aus der Luft und schoss ihn in einer flüssigen Bewegung in Richtung Leverkusen. Kraftvoll zwar und mit Spin, aber doch so, dass Lukas Hradecky ihn hätte wegfausten müssen - stattdessen bugsierte er ihn wie ein Feuerkünstler, dem plötzlich die Finger glühen, irgendwie nach hinten und irgendwie durch die eigenen Beine ins Tor.

Es waren Augenblicke wie dieser beim 0:3, die nicht Schadenfreude weckten, sondern live im leeren Stadion den Eindruck stärkten, ein höchst unterhaltsames, insgesamt sogar sportlich hochwertiges Finale gesehen zu haben. Das deckte sich offenbar nicht ganz mit den Eindrücken von jenen, die das Spiel zu Hause am Fernseher verfolgten und bald Attribute wie "langweilig" oder "eintönig" als Echo über die sozialen Blitzkanäle zurück ins Stadion funkten. Aber das war eine optische Täuschung oder der Beleg dafür, dass Fußball im Stadion etwas ganz anderes als Fußball im Wohnzimmer sein kann. Der Stadionbesucher sieht nur von oben die Totale, gerade im Berliner Olympiastadion, wo die blaue Laufbahn zwischen Rasen und Tribüne liegt. Wo nicht wie am Fernseher Mimik und Gestik ablenken, sondern selbst mit dem Opernglas kaum mehr als rote und schwarze Punkte zu erblicken sind. Aber aus dieser Distanz lässt sich viel erkennen. Nämlich dass die Bayern zu einer Mannschaft gereift sind, die Probleme bissig in der Gruppe löst. In der Flicks flexible Doppelsechs mit Joshua Kimmich und Leon Goretzka das neue Herzstück zu werden verspricht. In der die linke Seite mit David Alaba und Alphonso Davies flink und clever unterwegs ist. Und in der es klare Rollen und bis zu Halbzeit auch keinerlei Schwachpunkte gab. Vermutlich führte in einigen Wohnzimmern auch zur Ernüchterung, dass sich spätestens beim 2:0 automatisch der bekannte Schon-wieder-die-Bayern-Ernüchterungs-Reflex einstellte.

Jürgen Klopp, dies als Hinweis, ist mit dem FC Liverpool bereits gegen Atlético ausgeschieden

Es ist ja auch in Berlin wieder so einiges zusammengetragen worden: Es war der 20. Pokalsieg der Münchner, der auf die 30. Meisterschaft folgte, macht zusammen 50 große deutsche Titel. Akut stehen jetzt 26 Pflichtspiele ohne Niederlage zu Buche, gestört von einem einzigen Remis, das deshalb Erwähnung verdient: Es war das 0:0 im Februar im Heimspiel gegen Leipzig.

Und dennoch wurde am Samstag deutlich, dass auch Leverkusen zwar bisweilen schlampige, aber sehr geschickte Füße hat. Auch deshalb wird der Fußball-Kontinent sehr genau hingeschaut haben, denn Bayern kann im August bei den Champions, die Bayer-Elf zeitgleich in der Europa League triumphieren. Gäbe es da nicht ein Problem: Da die deutschen Streber mit ihrem Programm jetzt durch sind, müssen sie die Zeit sinnvoll überbrücken, bis die anderen, Italiens Serie A, Englands Premier League, Spaniens La Liga, fertig sind. Weshalb der Ab-in-den-Urlaub-Befehl begleitet wird von der Angst, der Rhythmus, die Automatismen könnten am Strand verloren gehen. Flick gibt sich gelassen, unter ihm hat der FC Bayern das Verlieren verlernt, und obwohl nicht einmal eine komplette Saison im Amt, vertraut er auf Bewährtes: "Wir haben vor der Corona-Pause dominanten Fußball gespielt, und es dann geschafft, uns auf so eine kleine Power-Saison von ein paar Wochen zu konzentrieren. Das wird dieses Mal das Gleiche sein."

Beginnend damit, dass zum Start in die nächste Power-Saison eine Aufgabe zu lösen ist. Da das Achtelfinale unterbrochen wurde, sind Leverkusener (3:1 bei Glasgow Rangers) und Bayern (3:0 beim FC Chelsea) trotz starker Insel-Auftritte noch nicht für die Finalrunden qualifiziert. Gelingt dies, wäre Flick voll in der Spur seines Mentors Jupp Heynckes: 2013 war's, da gewann dieser Trainer mit den Bayern erstmals das Triple. In London, Wembley, gegen Dortmund, gegen Trainer Jürgen Klopp.

Dieser Klopp, das zur Erinnerung, kann mit seinem FC Liverpool den Weg der Bayern in dieser Saison nicht mehr kreuzen; ausgeschieden ist Englands Meister als Corona kam, in einem denkwürdigen Duell mit Atlético Madrid. Einmal also angenommen, es wird vom FC Bayern im August in Portugal etwas Großes gewonnen, dann gäbe es in München auch im September, in dem die Wiesn ja hätte beginnen sollen, noch etwas zu feiern. Und das wirkt dann ganz bestimmt bis tief in den Oktober rein.

© SZ vom 06.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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