Werder Bremen:Es geschah an einem Montag

GER 1 FBL Werder Bremen vs VfB Stuttgart 02 05 2016 Weserstadion Bremen GER 1 FBL Werder Brem

Grün-weiße Festgesellschaft: Kapitän Clemens Fritz (vorne) und die Werder-Profis in der Fan-Kurve.

(Foto: Nordphoto/imago)

Außergewöhnlicher Termin, außergewöhnliches Spiel: Unter dem Protest einiger Fans unternimmt Werder Bremen eine Art Zeitreise.

Von Ralf Wiegand, Bremen

ISO 8601 definiert in vielen Ländern den Montag als ersten Tag der Woche - ja, auch damit hat sich die Internationale Organisation für Normung schon befasst, weil alles seine Ordnung haben muss. Es gibt darüber hinaus noch jede Menge ISOs für dienstags bis sonntags, etwa eine für die Transliteration von kyrillischen Zeichen ins Lateinische (ISO 9), eine für Linsensenkschrauben mit Schlitz (ISO 2010, Kreuzschlitz regelt ISO 7047) sowie eine für das "Manuelle Handhaben von Lasten", unterteilt in Heben und Tragen, Ziehen und Schieben sowie die "Handhabung geringer Lasten bei hoher Bewegungsfrequenz" (ISO 11228).

Natürlich fühlt sich das Leben immer dann besonders prickelnd an, wenn es keiner Norm folgt, wenn es komplett aus der Rolle fällt, wenn, wie in Bremen nun geschehen, sich der Montag wie ein Freitag anfühlt, das Flutlicht angeht, der Rasen brennt und die große Party beginnt, der zwangsläufig ein Wochenende zum Kurieren des Katers folgen müsste.

Das sehr eckige Gesicht von Jannik Vestergaard bekommt die weichen Züge eines Buben

An diesem unter Fußballfans verhassten ISO-8601-Wochenbeginn ereignete sich im Weserstadion Besonderes: ein 6:2 (3:1) gegen den VfB Stuttgart vor einem auf nie da gewesene Weise berauschten Publikum. Die sehr schwere Last eines drohenden Abstiegs aus der Bundesliga fühlte sich plötzlich leicht an wie eine Schäfchenwolke überm Deich, weil Spieler sie in extrem hoher Bewegungsfrequenz einfach fortschafften von diesem Ort. Jannik Vestergaard, ein baumlanger Bremer Abwehrspieler mit sehr eckigem Gesicht, bekam die weichen Züge eines Buben, während er sagte: "Als Kinder haben wir davon geträumt, bei solchen Spielen vor so einer Kulisse dabei sein zu dürfen."

Nur eben nicht montags, eigentlich. Der Manic Monday, dieser total verquere Tag, den die Mädchen-Band Bangels einst verfluchte, weil er kein Sonntag ist, gilt als der Hass-Tag schlechthin unter Fans, seitdem die Normierer des Fußballs ihn zum Zweitliga-Spieltag erklärt haben. Aus kommerziellen Gründen, um ein Live-Spiel ans Fernsehen verkaufen zu können. Das ist jetzt auch schon ungefähr 15 Jahre so, aber der Montag steht symbolhaft für die Zersplitterung der Spieltage - umso mehr, seitdem die Deutsche Fußball Liga angekündigt hat, ab der Saison 2017/18 auch fünf von 306 Punktspielen der Bundesliga montags anzusetzen. Also 1,6 Prozent aller Spiele.

Daher wiederholt sich nun der Widerstand, den es auch schon gab, als der einst heilige Sonntag zwecks TV-Vermarktbarkeit geschlachtet wurde. Am Montag, rund um das auf irrwitzige Weise zugespitzte Abstiegs-Duell zwischen Werder und dem VfB, demonstrierten Bremer Fans mit Plakaten "Pro 15.30" also wieder für den guten alten Ich-wasch-mein-Auto-und-höre-Radio-Samstag und mit anderen Schildern für den "Stopp der Zerstückelung des Spieltags". Einige Ultra-Gruppen aus Bremen und Stuttgart verweigerten sich der Partie.

Über den Anlass kann man streiten. Dieser Montagstermin kam nicht aus kommerziellen Gründen zu Stande, sondern weil die Polizei Bedenken hatte, die traditionell leicht entflammbaren Mai-Feiern am Wochenende und die Bundesliga gleichermaßen schützen zu können. Deshalb sollten am 1. Mai keine Spiele stattfinden, deshalb gab es sieben Partien am Samstag, deshalb wurde Werders Tanz in den Mai verlegt.

Es wurde dennoch ein rauschendes Fest, der bedeutendste Fußball-Montag, den Bremen je erlebt hat. Der ungewöhnliche Termin passte zu den ungewöhnlichen Fakten dieses Spiels, in dem es Eigen- und Hackentore gab und mehr Chancen, als jemals ISO-Normen aufgestellt werden können. So bemühten sich die Bremer Spieler zwar, den Unmut ihrer Fans ernst zu nehmen, wie Clemens Fritz, der sagte, er verstehe den Ärger, die Leute nähmen Reisen in Kauf, müssten sich bei der Arbeit frei nehmen, so etwas. Aber letztlich ging es an diesem Flutlicht-Abend eben doch um den Teil, der für das Spiel noch wichtiger ist, als es die Ultras sind: ums Ergebnis, den Klassenerhalt, um eine Demonstration des Willens und der bedingungslosen Unterstützung, mit der die ganze Stadt sich hinter ihren Verein stellte, obwohl es Montag war.

Werder hat für einen Abend die Erinnerung an seine großen Zeiten zurückgeholt, sogar der nicht übermäßig emotionale Trainer Viktor Skripnik hatte eine "Gänsehaut, es war wie 2004", wie in jener Saison mit Gewinn von Meisterschaft und Pokal, in der er noch selbst als Spieler mitkickte.

Überhaupt wirken die Bremer gerade so, als seien sie aus dem Raum-Zeit-Kontinuum gefallen, auf einen undefinierbaren Platz zwischen Heute und Gestern, zwischen Groß und Klein. Der Sieg brachte sie zurück auf den zweiten Platz der ewigen Bundesliga-Tabelle, aber nur einen einzigen Punkt vor die Abstiegsränge der aktuellen. Durch die sechs Tore verfügen sie nun über den zweitbesten Sturm der Rückrunde - hinter Dortmund, vor den Bayern -, aber durch die beiden Gegentore nach wie vor über die schlechteste Abwehr im selben Zeitraum. Und auf dem Patz zauberte, als Kapitän aller Zeitreisenden, in Claudio Pizarro ein Held aus Vergangenheit und Gegenwart mit der Unsterblichkeit verheißenden Frische eines 37-Jährigen.

"Heute verlassen wir das Stadion mit einem Lächeln", sagte Werders Angreifer Anthony Ujah nach all dem wahr gewordenen Wahnsinn. Und das, ganz gegen jede Norm, an einem Montagabend.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: