Tennis bei den US Open:Amazing Angie erstaunt New York

2016 U.S. Open - Day 11

Glücklich und zufrieden: Angelique Kerber

(Foto: AFP)

Eine Deutsche - die Nummer eins im Tennis? Das gab es seit Steffi Graf nicht mehr. Den nächsten Tennis-Boom wird Kerber aber selbst mit einem Triumph an diesem Abend kaum auslösen.

Von Jürgen Schmieder, New York

Sportler werden nur sehr selten gefragt, wo sie im größten Augenblick ihrer Karriere gewesen sind. Max Schmeling war natürlich im Yankee Stadium von New York, Helmut Rahn war in Bern im Hintergrund, und der Ringer Wilfried Dietrich lag in München auf Chris Taylor. Es ist eine törichte Frage, und doch musste sie gestellt werden am Donnerstagabend: "Angelique Kerber, wo waren Sie, als Sie davon erfahren haben, dass Sie von Montag an in der Tennis-Weltrangliste an Platz eins geführt werden?" Kerbers Antwort: "Im Fitnessstudio mit meinem Trainer und meiner Physiotherapeutin. Wir haben ein paar Sekunden geschwiegen."

Sie hatten bei den US Open einen Showdown für den Samstag geplant: Serena Williams gegen Angelique Kerber, zum dritten Mal bei einem Grand-Slam-Finale in diesem Jahr. Vor mehr als 25 000 Zuschauern. Zur besten Sendezeit. Um den Titel. Um Platz eins in der Weltrangliste. Um alles. Williams jedoch verlor 2:6, 6:7 (5) gegen Karolina Pliskova, während sich Kerber ein paar Stockwerke weiter oben auf ihr Halbfinale gegen Caroline Wozniacki vorbereitete. Als sie sich zum ersten Mal zum bisher größten Moment in ihrer Laufbahn äußerte, zwei Stunden später auf dem Platz nach dem 6:4, 6:3 gegen Wozniacki, da waren außer Familienmitgliedern, Freunden und Angestellten nicht einmal mehr 1000 Menschen im Stadion.

Nach allem, was über Angelique Kerber bekannt ist, hat sie dieses Ambiente vermutlich sehr passend gefunden: nicht zu viele Leute, nicht zu viel Lärm, nicht zu viel LaLaLa. "It's amazing", sagte sie auf dem Platz. Amazing lässt sich je nach Länge des zweiten "a" mit erstaunlich übersetzen, aber auch mit verdammt geil. Kerbers amazing lag irgendwo dazwischen, bei großartig vielleicht, und sie sagte später in den Katakomben noch sehr oft, dass sie etwas amazing findet: das Erreichen des Endspiels, ihre Saison, die Zuschauer in New York. Wahrscheinlich hätte sie auch auf die Frage nach Kaugummi gesagt, dass sie das amazing findet.

Es wären freilich auch andere Reaktionen auf diese Nachricht denkbar gewesen. Wie viele Menschen bekommen in ihrem Leben schon über eine objektive und allgemein anerkannte Messmethode mitgeteilt, dass sie bei dem, was sie tun, besser sind als irgendwer sonst auf der ganzen Welt?

Nach ihrem Sieg bei den Australian Open im Januar ist Kerber in einen Fluss gesprungen, das ist ihr bis heute ein bisschen peinlich. Sie ist betrunken gewesen damals, auch das ist ihr peinlich. Sie sagt, dass sie bei einem Sieg im Finale keinesfalls in einen Fluss springen werde. Sie spricht lieber darüber, dass so ein Endspiel ja erst einmal gespielt werden müsse, dass sie das Wort "Favoritin" nicht möge und dass schon das Erreichen des Finales amazing sei. Sie redet, bis sich ein italienischer Journalist beschwert, dass all ihre Antworten schrecklich vorhersehbar seien und dass er doch eine interessante Geschichte über sie schreiben müsse und sie doch mal was Interessantes sagen solle.

Kerber grinst - und wenn Steffi Graf von dieser Geschichte erfährt, dann grinst sie wahrscheinlich auch.

So ein Ereignis, Nummer eins der Welt, das muss ja immer historisch eingeordnet werden - und bei historischen Einordnungen im Frauentennis, da dient die Gräfin als Referenzgröße. Als Kerber die Australian Open gewann: Das hatte als letzte Deutsche Graf im Jahr 1994 geschafft. Silber bei Olympia in Rio: Graf, Barcelona 1992. Weltranglisten-Erste: Graf, letztmals März 1997. Auf jedem Gipfel, den Kerber derzeit erreicht, weht schon eine Flagge mit dem Namen Graf - und freilich hilft es der Legende von Graf, dass sie nach der Karriere nicht abstürzte, sondern sich vom Gipfel aus verabschiedete und von dort aus ins Privatleben verschwand. Hin und wieder ist auf der Anlage in Flushing Meadows die Frage zu hören: Hat Kerber nicht genug davon, nun immer wieder mit Graf verglichen zu werden?

Es war, so wird oft behauptet, alles ganz anders damals. Millionen Deutsche hätten sich für Tennis begeistert. Das ist nicht die ganze Wahrheit. Viele Deutsche begeisterten sich für Steffi Graf und Boris Becker und kannten nur wegen diesen beiden den Unterschied zwischen Topspin und Slice, so wie sie kurz darauf wegen Henry Maske plötzlich den Begriff Doppeldeckung kannten und wegen Michael Schumacher wussten, dass sich auf der Rennstrecke in Montréal auch drei Boxenstopps lohnen.

Aber es stimmt schon: So groß, wie Graf und Becker das Tennis einst gemacht haben, wird Kerber es eher nicht machen, und vielleicht ist es ja ganz gut so, wie es ist. Kerber muss keine Angst haben, dass sie nun Spitznamen wie Bum Bum Boris oder Fräulein Vorhand verliehen bekommt.

Graf ist Kerbers Fixstern geworden

Nur mal so ein Gedanke: Könnte es sein, dass Steffi Graf gerade in ihrem Haus in Las Vegas sitzt und sich überlegt, dass diese Angelique Kerber es ganz wunderbar getroffen hat im Leben? Dass sie große Turniere gewinnt und Olympia-Medaillen und auf Platz eins in der Weltrangliste geführt wird, aber diesen ganzen Zirkus nicht mitmachen muss, den die Deutschen veranstalten, wenn sie sich für eine Sportart begeistern, ihre Protagonisten zu Engeln verklären und später in die Hölle schicken? Dass Kerber, meistens zumindest, einfach in Ruhe gelassen wird?

Aktuelles Lexikon: Weltrangliste

Angelique Kerber tut auch Steffi Graf einen kleinen Gefallen, indem sie am Montag zur neuen Nummer eins im Welttennis aufsteigt. So muss Graf sich vorerst nicht sorgen, dass Serena Williams ihre Bestmarke übertreffen könnte. Insgesamt stand Graf 377 Wochen lang an der Spitze der Weltrangliste, Williams hatte es bereits auf 309 geschafft. Jede Woche, seit 1975, veröffentlicht die Spielerinnenorganisation WTA die neue Liste. Sie setzt sich aus den Ergebnissen der zurückliegenden 52 Wochen zusammen. Früher musste man noch einen Grundkurs in Arithmetik belegt haben, um das Ranking zu verstehen, mittlerweile ist das System vereinfacht worden: Für jede gewonnene Runde bei den Turnieren gibt es unterschiedlich viele Ranglistenpunkte, die meisten werden bei den vier Grand-Slam-Wettbewerben (Melbourne, Paris, Wimbledon, New York) vergeben. Falls Kerber an diesem Samstag das Finale der US Open im Park von Flushing Meadows, New York, gewinnt, bekommt sie 2000 Punkte gutgeschrieben; verliert sie, sind es 1200. Bisher hatte sie 6860 Punkte; Serena Williams führte mit 7050 - indem die Amerikanerin aber ihr Halbfinale am Donnerstag verlor, werden ihr nur 720 Punkte eingetragen. Die jüngste Spielerin, die je auf Platz eins stand, war 1997 Martina Hingis, mit 16 Jahren. Matthias Schmid

Graf ist für Kerber ein Fixstern geworden. Wenn sich Graf mal öffentlich äußert, dann geht es um humanitäre Aufgaben, ihre Hunde, die Sponsoren - oder um Kerber. Die beiden haben ein paar Mal miteinander trainiert und danach auch gesprochen. Vielleicht hatte der wichtigste Hinweis von Graf an Kerber überhaupt nichts mit Vorhand und Beinarbeit oder den mentalen Aspekten von Tennis zu tun. Vielleicht war der wichtigste Ratschlag, dass Kerber ihre Erfolge in aller Ruhe genießen kann, wenn sie viel spricht und wenig sagt. Wenn sie, zumindest öffentlich, so gewöhnlich wie möglich rüberkommt. Philipp Lahm etwa perfektioniert das seit 13 Jahren.

Der Trainer von Serena Williams findet Kerbers Spiel langweilig

Angelique Kerber ist 28 Jahre alt, sie wird von Montag an in einer Liste geführt werden, auf der nur 21 andere Frauen stehen, Namen wie Chris Evert, Martina Navratilova, Martina Hingis. Serena Williams.

Aber vielleicht ist so eine historische Einordnung ja gar nicht nötig, vielleicht genügt die Gegenwart. Es lohnt, sich mit Patrick Mouratoglou zu treffen, dem Trainer von Williams. Der spricht sehr gerne, er hört sich auch sehr gerne beim Reden zu. Mouratoglou steht in einer Loge im Arthur Ashe Stadium, er soll Werbung machen für Sonnenbrillen und macht doch vor allem Werbung für sich selbst. Unten auf dem Platz müht sich Kerber im Viertelfinale gegen die Italienerin Roberta Vinci, es sieht nicht gut aus im ersten Satz.

"Ich kann vorhersehen, wohin Kerber einen Ball spielen wird", sagt er mit diesem Lächeln, das nur südeuropäische Tennistrainer so selbstbewusst hinbekommen: "Es ist, als wären auf dem Platz zahlreiche Kissen in verschiedenen Farben verteilt. Wenn Kerber durch den Schlag ihrer Gegnerin auf ein, sagen wir, blaues Kissen getrieben wird, dann spielt sie den Ball genau dorthin, wo auf der anderen Seite des Netzes ein blaues Kissen liegt." Seine Mimik verrät, dass er diese Spielweise für mechanisch und nicht besonders kreativ hält. Ach was, er hält sie für langweilig. Er zieht jedoch die Augenbrauen nach oben und hebt den Finger: "Sie spielt die Bälle aber derart präzise an den Ort, den ich prognostizieren kann, dass viele Gegnerinnen dennoch keine Chance haben."

Man will ihm widersprechen und sagen, dass die Partien von Kerber auch aufregend sein können, spektakulär, überraschend. Dass sie sich in Ballwechsel beißt. Dass es Spaß macht, Kerber bei der Arbeit zuzusehen. All das will man ihm zurufen, doch Mouratoglou hört nicht gerne zu. Er wartet noch nicht einmal, bis er wieder dran ist mit reden. "Vorhersehbar", sagt er: "Alles vorhersehbar. Und am Samstag, da wird Serena noch immer die Nummer eins der Welt sein."

Zwei Tage später steht fest, dass Serena Williams nicht mehr die Nummer eins sein wird, erstmals seit März 2013.

Kerber erfährt von der Nummer eins im Fitnessraum

Kerber erfährt das im Fitnessraum, schweigend mit Trainer und Physiotherapeutin. Sie geht hinaus auf den Platz und gewinnt ihr Halbfinale - und dann sagt sie dem italienischen Reporter, der um eine knackige Aussage bettelt: "Ich weiß nicht, was du hören willst. Meine Mutter ist stolz auf mich." Eine ziemlich bemerkenswerte Antwort auf eine ziemlich dumme Frage.

Diese Mutter übrigens schlendert 15 Minuten nach der Partie über den Platz vor dem Stadion. "Ich bin völlig nass geschwitzt", sagt sie. Ihr Begleiter merkt an, dass nach dem ersten Satz eine medizinische Auszeit für Beate Kerber nötig gewesen wäre. Nun sei aber alles in Ordnung, nur die Champagner-Bar auf der Anlage schenkt keine Getränke mehr aus. Macht auch nichts, findet Mutter Kerber. Dann verabschiedet sie sich. Und feiert woanders. In aller Ruhe.

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