Sport und Trauer:Das Spiel des Lebens, es geht weiter

Darf das DFB-Team am Dienstag wieder Fußball spielen? Muss die EM im kommenden Sommer stattfinden? Zweimal ja - auch wenn's schwerfällt.

Kommentar von Christof Kneer

Vor sechs Jahren, ebenfalls im November, musste der deutsche Fußball schon einmal eine schreckliche Entscheidung treffen. Der Nationaltorhüter Robert Enke, ein hoch sympathischer, im Kollegenkreis ausgesprochen beliebter Mann, hatte sich das Leben genommen, und nun stand ein paar Tage später auf einmal ein absurd unwichtiger Termin quer im Kalender: Deutschland gegen die Elfenbeinküste, ein lange geplantes Testspiel vor der WM 2010.

Die deutschen Spieler, die diese Partie bestreiten sollten, kamen gerade von der Trauerfeier, auf der sie erschüttert Abschied genommen hatten von jenem Mann, der bei der WM eigentlich im deutschen Tor hätte stehen sollen - und da sollten sie jetzt tatsächlich Fußball spielen gegen die Elfenbeinküste? Sollten sie es nicht besser lassen?

Wie zukunftsgewandt darf und muss man sein?

"Der Anstoß gegen die Elfenbeinküste soll für uns auch ein Anstoß zur Rückkehr in den Fußballalltag sein" - mit diesen Worten begründete DFB-Teammanager Oliver Bierhoff damals die Entscheidung, das Spiel doch auszutragen.

Natürlich ist das eine Unglück nicht mit dem anderen zu vergleichen, natürlich war die persönliche Betroffenheit der deutschen Nationalspieler damals noch größer als jetzt - und doch berühren beide Fälle den Doppelcharakter der menschlichen Natur. Der tief empfundene Wunsch und auch die Verpflichtung zur Trauer geraten in Konflikt mit dem ebenso tief empfundenen Antrieb und der Verpflichtung, das Spiel des Lebens weiterzuspielen.

Wie zukunftsgewandt darf man/muss man sein, ohne in der Gegenwart pietätlos zu wirken? Im Privaten muss das jeder für sich entscheiden, aber auf der großen, öffentlichen Bühne hat der deutsche Fußball vor sechs Jahren eine Entscheidung getroffen, die auch jetzt nahelag und deshalb ein zweites Mal getroffen wurde: ein Länderspiel als eine Art öffentliches Trauergedenken auszurichten, als gemeinsame Bewegungstherapie, an deren Ende niemand ein strenges sportfachliches Gutachten über die Qualität des Passspiels oder die Taktik des Trainers erstellen sollte.

Das Spiel des Lebens weiterspielen

Für die EM wird das natürlich nicht mehr gelten. Es wäre im Gegenteil eine gute Nachricht, wenn im nächsten Sommer die sportfachlichen Gutachten in bewährter Aufgeregtheit diskutiert würden. Es wäre Frankreich und allen Turnierbeteiligten zu wünschen, dass ausschließlich gute und schlechte Pässe sowie richtige und falsche Einwechslungen die Debatten prägen werden; aber man weiß schon jetzt, dass es auch um Sicherheitszonen und Nahverkehrskontrollen gehen wird.

Die EM wird eine Hochsicherheits-Veranstaltung werden, und wer die aktuellen Bilder im Kopf hat, vermag sich nur schwer vorzustellen, dass an diesem belasteten Ort in absehbarer Zeit ein Sportfest steigen kann. Dennoch wird sich am Ende zurecht jenes Argument durchsetzen, das am Wochenende aus sämtlichen beteiligten Mündern zu hören war: dass der tief empfundene Antrieb, das Spiel des Lebens weiterzuspielen, auch hier stärker sein muss als die Trauer und die Furcht vor jenen Männern, die die Freiheit des Westens als Beleidigung empfinden.

Kann man dieses Turnier in Frankreich stattfinden lassen? Der Sport wird sich diese Freiheit nehmen müssen.

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