Schwimm-WM:Weltspitze als Anspruch

Schwimm-WM 2019

Das deutsche Team des Deutschen Schwimm-Verbandes um Florian Wellbrock blickt auf wechselhafte Jahre zurück.

(Foto: Bernd Thissen/dpa)

Viel Personal verschlissen, viele Konzepte gescheitert: Was kann dem deutschen Schwimmen jetzt noch helfen? Am ehesten wohl: Vielfalt und Vertrauen. Das neue Führungsteam hat viel Arbeit.

Kommentar von Claudio Catuogno

Der neue Leistungssportdirektor des Deutschen Schwimm-Verbands hat dem ehemaligen Cheftrainer gerade eine "gnadenlose Konzeptdoktrin" vorgeworfen, woraufhin der ehemalige Cheftrainer dem neuen Leistungssportdirektor zurief, er mache eine "Pippi-Langstrumpf-Manier" zum Maßstab seines Handelns. Frei nach Astrid Lindgren: Ich mach' mir die Welt widde widde wie sie mir gefällt. Die Frage, wie man sein Essen zu sich nimmt, wie man es etwa vor dem Herunterschlucken mit den Zähnen bearbeitet - diese Frage ist in den aktuellen Debatten über das deutsche Schwimmen hingegen ein bisschen zu kurz gekommen. Das war schon mal anders.

Im Sommer 2005 fand die Schwimm-WM in Montreal statt, Antje Buschschulte gewann dort Silber und Bronze im Rückenschwimmen, und der damalige Cheftrainer Ralf Beckmann hatte für die Erfolge eine interessante Erklärung parat: die vielen kleinen Dinge, die Buschschulte im Alltag richtig gemacht habe. "Sie isst regelmäßig und bewusst", sagte Beckmann, "sie kaut ordentlich und nimmt zu den Mahlzeiten entsprechende Getränke zu sich." Na dann.

In Montreal gewannen die deutschen Beckenschwimmer sechs Medaillen, davon eine goldene. Das galt 2005 als Enttäuschung. 14 Jahre später, bei der WM in Gwangju, wären eine oder zwei Medaillen schon ein Erfolg.

Der Cheftrainer Beckmann identifizierte seinerzeit die "fehlende Endgeschwindigkeit" als Hauptproblem, konnte aber nichts mehr daran ändern, er trat noch Ende 2005 zurück. Seither kamen und gingen die Verantwortlichen - und mit ihnen die Problemanalysen und Konzepte.

Der Norweger Örjan Madsen (2005 bis 2008), ein international respektierter Sportwissenschaftler, wollte die Schwimmer auf mehr Höhentrainingslager festlegen - musste aber feststellen, dass sich viel weniger Athleten und Trainer darauf einlassen wollten, als er erwartet hatte. Ebenso wie auf sein Ansinnen, die Schwimmer öfter zu Wettkämpfen zu schicken, damit sie Routine bekommen und im Ernstfall nicht mehr so häufig verkrampfen. Sein Spruch dazu: "Die Probleme liegen zwischen den Ohren." Doch dann gewann Britta Steffen, das größte Schwimm-Sensibelchen von allen, 2008 in Peking olympisches Doppel-Gold - und alles schien nur noch halb so schlimm zu sein. Wie ja viel zu oft im Sport Einzelerfolge als Beleg dafür genommen werden, dass insgesamt die Richtung stimmt.

Die 14-Jahres-Bilanz: mehr Schaden als Nutzen

Ein Erbe, aus dem sich etwas hätte entwickeln lassen, hatte Madsen dem Schwimmen allerdings hinterlassen: Seit 2008 ist das DSV-Führungspersonal wenigstens den wichtigsten Stützpunkttrainern gegenüber weisungsbefugt. Damit diejenigen, die am Ende an Erfolg und Misserfolg gemessen werden, nicht mehr machtlos zusehen müssen, wenn mal wieder ein Medaillenkandidat und sein Trainer die Vorbereitung vermasseln.

Der Haken an der Sache: Von nun an war das Personal das Problem, das diese Weisungsbefugnis in Erfolge ummünzen sollte.

Da war zunächst das Führungs-Duo aus dem erfolgreichen Wassersprung-Coach Lutz Buschkow als übergeordnetem Sportchef und dem exzentrischen Einzelgänger Dirk Lange als Bundestrainer Schwimmen, die oft ein irritierendes Bild abgaben in ihrer wechselseiten Illoyalität. Um zu signalisieren, dass man es ernst meint mit dem Anspruch "Weltspitze", setzte Dirk Lange so harte Qualifikationsnormen an, dass man vor der WM 2011 in Shanghai auf manchen Strecken deutschen Rekord hätte schwimmen müssen, um dabei zu sein. Schneller wurde so kaum jemand, unzufriedener wurden viele. Von Lange trennte sich der DSV wenige Monate vor Olympia 2012. Besser gar kein Bundestrainer als dieser, war nun die Devise.

Und nach den Null-Medaillen-Spielen von London übernahm dann Henning Lambertz. Auch Lambertz' Problemanalyse war zunächst nicht falsch: Anderswo in der Welt wird viel härter trainiert, vor allem im Bereich Krafttraining. Aber vor lauter Beharren auf einem umstrittenen Kraftkonzept, das er dank seiner schönen neuen Weisungsbefugnis nun verbindlich machte, hob Lambertz so viele Schützengräben aus und schoss dann mit so grober Munition auf alle, die ihm nicht folgen wollten, dass auch er dem deutschen Schwimmen mehr Schaden als Nutzen hinterließ.

Das ist, zugegebenermaßen verkürzt und minimal bösartig zugespitzt, die Bilanz der letzten 14 Jahre. Dass sich das globale Schwimmen in dieser Zeit radikal weiterentwickelt hat, macht die Sache für die Deutschen nicht leichter.

Wichtig ist nun das Erklären

Jetzt heißt der neue Leistungssportdirektor also Thomas Kurschilgen. Er hat nicht nur die harten Normen kassiert, von denen nach Lange auch Lambertz überzeugt war. Sondern die Position des Chefbundestrainers gleich mit. Jetzt soll ein Führungsduo aus zwei Heimtrainern die grobe Richtung vorgeben, Bernd Berkhahn als "Teamchef" und Hannes Vitense als "Teamcoach". Kern der neuen Philosophie: Die Heimtrainer sollen endlich wieder in Ruhe ihre Arbeit machen dürfen. Welche konzeptionellen Stellschrauben bleiben auch groß übrig, wenn man vieles schon durch hat: harte Normen, weiche Normen, Despoten als Chefs, gar keine Chefs?

Womöglich, frei nach Antje Buschschulte: besser kauen?

Durchaus, aber halt im übertragenen Sinne: viele kleine Dinge richtig machen.

Es muss nicht zum Schaden des deutschen Schwimmens sein, wenn jetzt ein Führungsteam versucht, diesen Sport in seiner Komplexität zu entwickeln und zu steuern. Doch je weniger man auf die einfachen Lösungen vertraut - viel hilft viel, jedes Schiff braucht einen Kapitän usw. -, desto wichtiger ist das Erklären. Das Werben für die komplexen Lösungen, für die Vielfalt der Wege und das Vertrauen in die handelnden Personen. Nicht zuletzt auch das Werben für sich selbst und seine Sichtweisen. Damit hat vor allem Thomas Kurschilgen zu spät begonnen. Nicht nur in der Öffentlichkeit, teilweise auch intern. Wie leicht man sich aber angreifbar macht in diesem hochnervösen Milieu, das hat die Vergangenheit gezeigt.

Selbst wenn es in Gwangju jetzt mal wieder klappen sollte mit der ein oder anderen Medaille: Die Arbeit hat gerade erst begonnen.

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