Olympia:Dem Penalty-Drama folgt das Wellenreiten in der Menge - bis 4 Uhr

Shoot Out Jeroen Hertzberger NED spielt den Ball gegen Torwart Nicolas Jacobi li GER 13 Wettkam

Mit ganzem Einsatz: Im Shoot-out kam Nicolas Jacobi gegen Jeroen Hertzberger zu spät, aber zwei Versuche der Niederländer parierte er.

(Foto: imago)

Die Hockey-Männer sind als Feierbiester bekannt. Sie holen in Rio zwar "nur" Bronze, ihre Party geht aber wieder bis in den Morgen. Auch dank eines Deko-Surfbretts.

Von Volker Kreisl, Rio de Janeiro

Nicolas Jacobi sagt, er könne den Zeitraum von acht Sekunden einschätzen. Damit meint er nicht einfach nur acht Sekunden, sondern exakt acht Sekunden, also acht Mal zehn Zehntelsekunden hintereinander. Um zu wissen, dass die abgelaufen sind, muss er nicht auf die Stadion-Uhr schauen, und er braucht auch nicht die Sirene, die den Ablauf der acht Sekunden verkündet, die aber ohnehin nicht ganz genau ist. "Doch, das hat man als Hockeytorwart so im Gefühl", sagt er und grinst.

Bronze berauscht die Hockeytruppe wie Gold in London und in Peking

Nicolas Jacobi hatte gerade im Penaltyschießen gegen die Niederlande den entscheidenden Anteil daran, dass die deutsche Hockey-Mannschaft wieder in ähnlicher Art ausrasten durfte wie damals in London. 2012 hatte sie bei Olympia Gold gewonnen und wild gefeiert. Später ging auf der zu Werbe- und Feierzwecken gebuchten Dampfer-Passage des gesamten deutschen Verbands zurück nach Hamburg jedenfalls ein bisschen was zu Bruch. Als die Deutschen in Rio nun im Halbfinale ausgeschieden waren, herrschte noch große Tristesse, aber dann zeigte das Team einen derartigen Willen im Spiel um Bronze, als ginge es um die Goldmedaille. Und am Sieg berauschte sich die Hockeytruppe wie damals in London und wie beim Olympiasieg in Peking 2008. Das Gefühl wird noch eine Weile andauern, bei Teamsportlern ist das so, auch wenn von Rio kein Party-Schiff nach Hause fährt.

Das Glück von Rio hängt auch stark mit den Gefühlsschwankungen in den Tagen zuvor zusammen, die Woche hatte etwas Manisches. Nach dem Last-Second-Sieg gegen Neuseeland wähnte sich das Team unschlagbar, nach dem 2:5 im Halbfinale gegen Argentinien herrschte Leere in der Seele. Nun folgte dieser mit großer Lauflust, Hingabe und taktischer Überlegenheit erzielte Sieg im kleinen Finale gegen den olympischen Dauerrivalen Niederlande. Und mitten im Sturm der Gefühle befand sich der Torwart, Nicolas Jacobi.

Olympia-Bilanz der deutschen Hockey-Männer

1908 in London Platz fünf

1928 in Amsterdam Bronzemedaille

1936 in Berlin Silbermedaille

1952 in Helsinki Platz fünf

1956 in Melbourne Bronzemedaille

1960 in Rom Platz sieben

1964 in Tokio Platz fünf

1968 in Mexiko-Stadt Platz vier

1972 in München Olympiasieg

1976 in Montréal Platz fünf

1984 in Los Angeles Silbermedaille

1988 in Seoul Silbermedaille

1992 in Barcelona Olympiasieg

1996 in Atlanta Platz vier

2000 in Sydney Platz fünf

2004 in Athen Bronzemedaille

2008 in Peking Olympiasieg

2012 in London Olympiasieg

2016 in Rio de Janeiro Bronzemedaille

Am Dienstag, nach dem letztlich chancenlosen Auftritt gegen den späteren Olympiasieger Argentinien, stand Jacobi noch in der Kritik. Denn mehr als fünf Chancen hatten die Argentinier ja nicht, und von diesen fünf Schüssen konnte er keinen abwehren. Am Donnerstag spitzte sich der Kampf um Bronze dagegen richtig zu, trotz der Überlegenheit der Deutschen, deren Stürmer aus 15 guten Chancen zum regulären Spielende nur ein 1:1 gemacht hatten - und es so zum Penaltyschießen kam.

Jacobi war 2012 zum wertvollsten Spieler der Euro Hockey League gewählt worden, auch weil er in Halbfinale und Finale für sein Team je vier Penaltys gehalten hatte. Seitdem gilt er als Bank im Shoot-Out. Stürmer Christopher Rühr bezeichnet ihn als "besten Penalty-Torhüter der Welt". Um diesen Ruf zu erwerben, braucht man gute Reflexe und ein gewisses Fachwissen, und man weiß eben irgendwann, wie lange acht Sekunden dauern.

"Wenn er dann zögert und überlegt, dann hast du ihn meistens"

Schon beim ersten Penalty stellte Jacobi dies unter Beweis. Er hielt den Versuch von Billie Bakker, obwohl der Ball im Kasten lag. Denn ein Penalty dauert acht Sekunden, so viel Zeit bleibt, um den Torwart auszuspielen, wer später verwandelt, scheitert. Als Bakker traf und die Sirene auch erst danach ertönte, glaubten alle, die Deutschen lägen schon im Rückstand. Bakker drehte ab und jubelte - nur Jacobi jubelte eben auch und verlangte sofort den Videobeweis. "Ich war mir ganz sicher", sagte er später. Das Ergebnis: kein Tor, Zeit überschritten, um 0,2 Sekunden.

Diese 0,2 Sekunden waren wohl auch für die Niederländer ein weiterer Schlag gegen das Selbstbewusstsein, ihre Halbfinalniederlage gegen Belgien und nun dieses Abschneiden könnte als Trauma noch lange weiter wirken. Bakkers Teamgefährte Jeroen Hertzberger schimpfte: "Wir sind der Weltranglisten-Zweite, wir haben Australien, den Ersten, geschlagen, wir sind immer unter den Besten, Platz vier ist enttäuschend."

Der 0,2-Sekunden-Auftakt war auch nicht gerade dazu angetan, den letzten Glauben zu mobilisieren. Alle deutschen Schützen trafen danach, drei von ihnen auf die gleiche Art, weil sie Torwart Jaap Stockmann durchschaut hatten. Der Rechtshänder hatte den Schlägergriff weit am Ende gefasst, um seine Reichweite zu erhöhen, doch eine lange Angel lässt sich viel schwerer auf die linke Seite wenden. Die Deutschen liefen an, zwangen Stockmann zunächst in sein rechtes Eck, machten einen Haken hinüber auf seine freie linke Flanke und schossen ein. Drei Tore kassierte dann auch Jacobi, den entscheidenden fünften Versuch aber hielt er schulbuchmäßig, indem er den Plan des Schützen, eine Rückhand anzutäuschen, durchkreuzte: "Wenn er dann zögert und überlegt, dann hast du ihn meistens."

DOSB-Chef Alfons Hörmann zieht die Spaßbremse

Danach gab es nicht nur viel zu feiern und von der Anspannung dieser Tage abzuarbeiten, sondern auch den Anlass, ein bisschen wehmütig zu sein. Kapitän Moritz Fürste hatte mit diesem Tag sein 292. und letztes Länderspiel absolviert. Trainer Valentin Altenburg, dessen Vertrag zunächst nur bis Rio galt, wird für Tokio 2020 diese Mannschaft wohl weiterentwickeln, deren junge Spieler zwar nicht Gold, aber doch viel Erfahrung holten. Altenburg sagte abschließend: "Die Jungs haben einen Riesen-Job gemacht, sich zurückzubringen und wieder aufzurichten!"

Das galt auch für die Party danach im deutschen Haus. Sie verlief recht manierlich. Obwohl? Tobias Hauke tanzte zum Beispiel auf dem Tresen, er musste, als er hintenüber gekippt war, kurz behandelt werden, stand aber mit bandagiertem Finger gleich wieder auf seinem Posten. Eines der Deko-Surfbretter an den Wänden diente später noch zum Wellenreiten in der Menge, und als zwischen 3 und 4 Uhr morgens das Fest beendet wurde (wegen der "Sicherheitslage", wie DOSB-Chef Alfons Hörmann am nächsten Tag rechtfertigte, einer Art Hilfe zur Selbsthilfe, damit nichts passiere), da hatten die Deutschen nach diesen zwei langen Wochen immer noch genügend Energie, um sich darüber zu beschweren.

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