Nationalelf:Die wilden Experimente des Bundestrainers

Tschechien - Deutschland

Joachim Löw beim Spiel gegen Tschechien.

(Foto: dpa)
  • Joachim Löw überraschte gegen Tschechien mit interessanten taktischen Aufstellungen.
  • Mit seinem neuen Kader will er herausfinden, was noch alles möglich ist.
  • Für die kommenden Spiele dürfte Löws Experimentierfreude sogar noch zunehmen.

Von Carsten Scheele, Prag

Ehe noch jemand den Überblick verliert, hier zum Mitschreiben: Joachim Löw ließ beim 2:1 (1:0) in Prag gegen Tschechien gleichzeitig zwei Mittelstürmer und zwei Zehner auflaufen. Toni Kroos agierte als Solo-Sechs, obwohl ihm diese Rolle nicht so sehr behagt. In der Dreierabwehrkette spielte plötzlich Matthias Ginter. Auf dem Flügel musste Julian Draxler, obwohl noch bester deutscher Spieler des Confed Cups im Sommer, lange auf seine Einwechslung warten, weil Julian Brandt für ihn stürmte. Das klingt alles in allem originell, und da es sich um ein Pflichtspiel um die WM-Qualifikation handelte und der Gegner nicht gerade Andorra hieß, musste die Frage erlaubt sein: Warum tut der Bundestrainer das?

Die Antwort ist geradezu banal: Weil er es kann. Löw hat zehn Monate vor dem Beginn der WM eine derart luxuriöse Anzahl an talentierten Fußballern um sich versammelt, einen Mix aus Weltmeistern und Confed-Cup-Siegern, dass er es sich zur Aufgabe gemacht hat, herauszufinden, was mit diesem Kader noch möglich ist. Für ihn spricht, dass solche Spiele, selbst wenn taktisch viel misslingt wie gegen die Tschechen, nicht in einer Niederlage enden - am Freitagabend war es Mats Hummels, der mit einem Brachialkopfball in der 88. Minute den siebten Sieg im siebten Qualifikationsspiel sicherstellte. Ein "ziemlich wildes Spiel" hatte Hummels bis dahin gesehen, nicht nur er.

Flucht in alte Muster

Doch Kritik an seiner Aufstellung ließ Löw abperlen, er sprach stattdessen über seine Spieler, die sich nicht an die Vorgaben gehalten hatten. Er habe ja gewusst, dass Tschechien auf Konter lauern würde, deshalb wollte er hinter den Stürmern Lars Stindl und Timo Werner unbedingt zwei Zehner installieren, nämlich Mesut Özil und Thomas Müller, um richtig viel Druck aufzubauen. Ein paar Minuten klappte alles vorzüglich, die DFB-Elf kombinierte flink, Werner besorgte die frühe Führung (4.).

Anschließend war es allerdings nur noch Werner, der sich seine Laufwege in die Tiefe suchte, während die anderen die Pläne des Bundestrainers torpedierten. Als es nicht lief, flüchteten sich die meisten Spieler in alte Muster: Liefen dem Ball entgegen, wählten den kürzeren und sicheren Pass, spielten sich den Ball so lange zu, bis er irgendwann weg war. Den Tschechen fiel es leicht, das deutsche Spiel mit einer Fünfer- und einer davor gelagerten Dreierkette zu ersticken. Kroos war überfordert, alle verlorenen Bälle im defensiven Mittelfeld abzufangen. Alleine, denn einen zweiten Sechser hatte Löw nicht vorgesehen. Nach dem Traumtor des verwaisten Herthaners Vladimir Darida zum 1:1 (78.) drohte die Partie ganz zu kippen.

Löw gab sich nach dem Spiel trotzdem unbeirrt. Um es bei der Weltmeisterschaft mit Spaniern, Italienern und Franzosen aufnehmen zu können (sowie mit Brasilianern, Chilenen und höchstwahrscheinlich auch Argentiniern), fordert er die komplette Flexibilität von seinem Team, auch in den Köpfen der Spieler. Wenn Plan A nicht funktioniert, möchte er nicht nur Plan B und C parat haben, sondern am besten auch noch Plan D bis J. Warum nicht im Halbfinale die Spanier für ein paar Minuten mit der Doppel-Zehn-Variante verwirren? An diesem Repertoire arbeitet er gerade. Feste Hierarchien scheinen ziemlich unwichtig zu sein; wer auf dem Platz steht, ob Weltmeister oder Confed-Cup-Kraft, soll die verabredete Spielidee konsequent verfolgen. Das traut Löw mehr Spielern zu als bloß einer ersten Elf.

Die Tücke in Löws Luxus-Plan ist das Timing

Für die kommenden Spiele dürfte Löws Experimentierfreude sogar noch zunehmen. Schließlich ist die Qualifikation für die Titelkämpfe in Russland annähernd geschafft, und es stehen weitere Länderspiele an, eines im September, zwei im Oktober, zwei im November, die der Bundestrainer für weitere Wagnisse nutzen kann. Gut möglich, dass es ganz neue taktische Formationen zu bestaunen geben wird, die bislang nicht in der DNA des DFB-Teams auftauchten. Schon am Montag in Stuttgart gegen Norwegen werde er "sehr offensiv aufstellen", kündigte Löw an. Vermutlich viel offensiver, als er es bei der WM je tun wird.

Das ist die Tücke, die Löw in seinem Luxus auflauert: Es wird die Kunst sein, rechtzeitig den Punkt zu finden, an dem er seine Elf wieder stabilisiert und in ein großturniertaugliches Korsett steckt, wenn auch in kein allzu enges. Der Bundestrainer darf nur 23 Spieler mit zur WM nehmen, und eine eingespielte Mannschaft bestand in den vergangenen Jahren auch nicht aus 23, sondern aus 13 bis 15 Spielern, die nicht nur die gemeinsame Spielidee kannten, sondern auch exakt die Stärken und Schwächen des Nebenmanns. So wurde Deutschland 2014 in Brasilien Weltmeister.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: