Hertha BSC:Schwiegersöhne im Aufwind

Berlin Sportpark GER 1 FBL Hertha BSC Saison 2016 2017 Training Foto Ondrej Duda

Neuzugang Ondrej Duda soll bei der Neuerfindung der Hertha helfen.

(Foto: Metodi Popow/imago)

Hertha BSC versucht, seine Mannschaft mit wenigen Mitteln zu modernisieren. Pal Dardai hat die Lethargie in seinem Team aufgebrochen, der Konkurrenzkampf lebt wieder.

Von Javier Cáceres, Berlin

Die Kunst, sich neu zu erfinden, zählt zu den schwierigeren Unterfangen, und es dürfte weitgehend unbestreitbar sein, dass Geld dabei hilft, sie in Vollendung aufzuführen. Auf den professionellen Fußballbetrieb bezogen heißt dies: ein paar Millionen hier, ein paar Millionen da und siehe da: Fertig ist ein neues, verheißungsvolles Projekt - mögen die Neuerungen sich dann auch bloß als Kosmetik entpuppen.

Durch dieses Prisma betrachtet ist das, was der Berliner Fußballbundesligist Hertha BSC in diesem Sommer in Angriff nimmt, jede Beachtung wert. Das Projekt, um das es geht, wurde im vergangenen Jahr gestartet; nun versucht der Verein, der an diesem Sonntag gegen den SC Freiburg in die neue Saison startet (15.30 Uhr/Sky), sein Unternehmen zu modernisieren. Weitgehend ohne Geld. Zumindest, wenn man die zuletzt öffentlich geisternden Zahlen zum Maßstab nimmt.

Gerade mal drei neue Spieler wurden verpflichtet. Ondrej Duda, 21, kam für angeblich vier Millionen Euro aus der polnischen Liga von Legia Warschau, ein Brasilianer namens Allan Rodrigues da Sousa, 19, wurde zum Nulltarif beim FC Liverpool ausgeliehen und am Freitag wurde der Zugang von Alexander Esswein, 26, vom FC Augsburg verkündet, die Ablöse soll bei 2,5 Millionen Euro liegen. Es gibt schillerndere Namen auf dem Markt. Doch jeder der neuen Herthaner für sich ist dazu angetan, die Statik der Mannschaft zu verändern, wenn er hält, was er verspricht.

Der Markttest der neuen Spieler wird unter Live-Bedingungen erfolgen

Der Grund: Es sind Spieler mit Profilen, die Hertha bisher so noch nicht im Sortiment hatte. Duda gilt als klassischer Spielmacher, Allan als spielstarker "Sechser", Esswein als schneller Außenstürmer. Doch obwohl Hertha wegen der Europa-League-Qualifikationsrunde die längste Vorbereitungsphase aller Bundesligisten hatte (sieben Wochen), hat man sich in Berlin noch kein Bild der Neuen machen können, der Markttest wird gewissermaßen unter Live-Bedingungen erfolgen, wenn überhaupt.

Duda ist knieverletzt und fällt wohl bis Oktober aus, der als hochbegabt geltende Allan ist seit langer Zeit ohne wirkliche Spielpraxis auf hohem Niveau (er hatte keine Spielerlaubnis für die englische Premier League), und Esswein ist zwar aus der Bundesliga bekannt, aber eben erst am Freitag in Berlin gelandet, mithin noch ohne Bindung zum Team. Seinen neuen Trainer Pal Dardai hat Esswein bei den ersten Trainingseinheiten aber schon überzeugt: "Jetzt haben wir einen Spieler, der richtig Speed hat", sagte der Ungar.

Ansonsten wurden die Leistungsträger nicht nur gehalten, sondern ihre Verträge teilweise vorzeitig verlängert. So gab Hertha am Freitag bekannt, den Vertrag von Mitchell Weiser bis 2020 ausgedehnt zu haben. Per se ist der Versuch, das vergleichsweise erfolgreiche Modell des vergangenen Jahres durch punktuelle Verstärkungen zu perpetuieren, nachvollziehbar. Die Trockenübungen für die Bundesliga aber ließen freilich noch zu wünschen übrig.

Ein Test gegen den SSC Neapel geriet - nach guter erster Halbzeit - zur Blamage. In der Europa League verspielte Hertha einen 1:0-Vorsprung aus dem Hinspiel gegen Bröndby Kopenhagen, im Pokal überstand der Berliner Bundesligist die erste Runde beim unterklassigen SSV Jahn Regensburg erst im Elfmeterschießen. Die Stimmung in der Hauptstadt litt derart, dass Trainer Pal Dardai, der seit Februar 2015 das Gesicht des Teams nachhaltig verändert hat, vor dem Spiel gegen Freiburg der Kragen platzte. "Ich werde das nie verstehen in Berlin", sagte er. "Da holst du (in der Vorsaison als vermeintlicher Abstiegskandidat, Anm. d. Red.) fünfzig Punkte, hast eine eingespielte Mannschaft, guten Teamgeist, gute Jungs - und trotzdem ist schon wieder schlechte Stimmung."

Schon zu seiner Zeit als Spieler habe es ihn "angekotzt, dass man nicht auf die Straße gehen konnte, weil man - in Anführungszeichen - nur Europa League spielte." Die Folge diesmal: Trotz bestem Sommerwetter erwartet Hertha am Sonntag kaum mehr als 40 000 Zuschauer, was einerseits mehr ist als beim vorangegangenen Besuch der Freiburger, andererseits eben doch weit unter der maximalen Auslastung (74 500) des Olympiastadions liegt.

Das Pokalspiel gegen den SSV Jahn lässt fußballerisch hoffen

Dardai wollte insbesondere das Ausscheiden aus der Europa League, vor allem aber den Auftritt im Pokal relativiert wissen. Den K.o. gegen Bröndby nahm er auf seine Kappe. "Ich habe keine große Rücksicht auf die Europa League genommen, ich habe die Mannschaft hart trainiert" - mit Blick auf die Bundesliga, also das Pflichtprogramm. Im Pokal beim SSV Jahn habe man wiederum Chancen zuhauf kreiert, das lasse fußballerisch hoffen. Besonders gefiel Dardai, dass seine Elf im Elfmeterschießen überzeugte. Jene Spieler, denen er noch zum Ende der vergangenen Saison voller Zorn vorwarf, die Mentalität idealer Schwiegersöhne zu haben, hätten diesmal, als es drauf ankam, "Eier" gezeigt - und alle Elfmeter verwandelt.

Überhaupt will er in den letzten beiden Wochen der Vorbereitung einen Aufwärtstrend erkannt haben. Er habe, auch wegen der schrittweisen Erweiterung des Kaders, endlich wieder das Gefühl gehabt, dass in der Mannschaft ein Konkurrenzkampf tobt: "Die letzten zwei Wochen waren so, wie ich mir das vorstelle". Dardai selbst griff zu einem radikalen Mittel, um die Lethargie aufzubrechen. Er entmachtete Kapitän Fabian Lustenberger und übergab die Binde dem bosnischen Stürmer Vedad Ibisevic, der privat möglicherweise auch ein passabler Schwiegersohn ist, auf dem Platz aber kratzt, beißt, kämpft und schwitzt.

Das sind die Grundtugenden, auf denen die gute erste Hälfte der vergangenen Saison basierte, und die Hertha von Europa träumen ließ. Manager Michael Preetz meint, die Hertha gehöre zu den Klubs, für die "zwischen Abstiegskampf und Champions League" alles möglich sei. "Unsere Aufgabe ist es, uns weiter zu etablieren, unser Ziel: 45 Punkte zu holen. So schnell wie möglich", sagt Trainer Dardai und behauptet: "Bei uns herrscht gute Stimmung". Nun gilt es, die Stadt zu infizieren. Doch das ist in Berlin fast schwieriger, als 45 Bundesligapunkte zu sammeln.

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