Charles Leclerc:Der Junge aus dem Hafenpool

F1 Grand Prix of Azerbaijan - Practice

Fährt, als gebe es keine Regeln: Ferrari-Pilot Charles Leclerc.

(Foto: Getty Images)
  • Ferrari-Pilot Charles Leclerc ist in Monaco aufgewachsen - fern vom Luxus, aber nahe dem Renngeschehen.
  • Aus den Umständen seiner Jugend zieht er auch die Kraft, den viermaligen Weltmeister Sebastian Vettel herauszufordern.
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Von Philipp Schneider

Wenn sich der Legende trauen lässt, dann war Charles Leclerc vier Jahre alt, als ihm zum ersten Mal dämmerte, dass das Rennfahrerdasein ein erstrebenswertes Lebensmodell sein könnte. Er war in diesem Moment nicht zum Rennsport gegangen wie so viele Formel-1-Piloten vor ihm, die ihre erste Geschwindigkeitserregung auf den Kartbahnen gespürt haben. Bei Charles Leclerc war es anders. Die Formel 1 kam zu ihm.

Gemeinsam mit seinem Vater Hervé, einem ehemaligen Rennfahrer, wohnte der junge Charles oberhalb des Kurses von Monaco. Reich waren sie nicht, die Leclercs. Aber das Geld genügte für ein Appartement mit unverbautem Blick auf die erste Kurve des berühmtesten Rennens der Welt: Sainte Dévote. Die heilige Devota.

Einmal im Jahr trägt die Formel 1 in der Heimat der Leclercs eine Veranstaltung aus, deren Wildheit sich auch einem Vierjährigen erschließt. Sie jagt vorbei an hohen Häusern, einer Spielbank von 1854, durch enge Gassen, es gibt 19 Kurven und 3337 Meter Wahnsinn pro Runde, die man erst einmal ohne Karambolage überstehen muss. Mit 290 Stundenkilometern rasen die Fahrer durch einen dunklen Tunnel, dann blicken sie ins grelle Sonnenlicht, die folgende Kehre wurde "Schwimmbad-Kurve" getauft; dort stürzte Alberto Ascari 1955 mit seinem Lancia ins Hafenbecken und musste sich von einem Matrosen des Reeders Aristoteles Onassis wieder rausfischen lassen.

2001 also blickte der vierjährige Charles Leclerc aus einem Fenster hinab auf eine Strecke, die ihm wie eine Carrera-Bahn für verspielte Riesen vorkommen musste. Er sah, wie der Pilot David Coulthard in der Einführungsrunde liegen blieb. Und er sah zwei Ferraris, die nach 262,86 Kilometern als erste über die Ziellinie fuhren: Michael Schumacher vor Rubens Barrichello. "Seit diesem Moment habe ich davon geträumt, einmal selbst Teil von all dem zu sein", hat Leclerc erzählt.

Bei Leclerc klingt immer mit, dass ihm Prunk und Prominenz egal waren

Es gibt in Monaco reichlich Monegassen, die dorthin geflohen waren, um Steuern zu sparen. Und es gibt ein paar Monegassen, die tatsächlich im Fürstentum auf die Welt gekommen sind. Charles Leclerc wurde hineingeboren in die schräge Gesellschaft von Millionären aller Nationen. Als Jugendlicher schwamm er in dem Pool, der an den berühmten Hafen grenzt, wo die Luxusjachten Reling an Reling dümpeln, so eng, dass sich das Wasser kaum mehr sehen lässt. Im Alter von zwölf Jahren wurde er von Fürst Albert in den Palast geladen, all solche Anblicke können abschrecken oder motivieren. Bei Leclerc klingt immer mit, dass ihm Prunk und Prominenz egal waren. Dass es seine brutalen Lebenserfahrungen waren, die ihn zu dem Rennfahrer gemacht haben, der er nun ist.

Im Alter von fünf Jahren setzt ihn Vater Hervé zum ersten Mal in ein Kart. Der kleine Charles gibt Gas und beweist früh sein Talent. Er siegt im Kart und gewinnt auch in allen Nachwuchsmeisterschaften: in der Formel Renault, in der Formel 3 und auch in der Formel 2, dem Kindergarten der Formel 1. 2017, in einem Jahr, das er niemals vergessen wird, wie er sagt. "Weil es mir die größte Freude und gleichzeitig das größte Leid beschert hat."

Im Juni stirbt Hervé Leclerc nach langer Krankheit. Charles verliert nicht nur seinen Vater, sondern den wichtigsten Förderer: "Den Menschen, der am meisten an mich geglaubt hat und ohne den mein Aufstieg zum Ferrari-Fahrer undenkbar gewesen wäre." Als das Ende naht, lügt er den Sterbenden an. Es ist eine Lüge aus Liebe. Er sagte ihm, dass er seinen ersten Formel-1-Vertrag bereits unterschrieben habe, was nicht stimmt. Aber die Verhandlungen mit Sauber stehen damals immerhin kurz vor dem Abschluss. "Also wollte ich meinem Vater vor seinem Tod noch seinen größten Wunsch erfüllen."

Wenige Tage später reist Leclerc als Ferrari-Reservepilot nach Baku und gewinnt das Formel-2-Rennen. Er sei schlagartig erwachsen geworden, er sehe die Dinge im Leben nun anders, erzählt er danach der Zeitung Independent. "Den Druck, ich spüre ihn noch. Aber 20-mal weniger stark. Mein Leben ist in eine andere Perspektive gerückt worden. Ich habe begriffen, welche Dinge wichtig sind. Und dass ich zuvor vor allem aus den kleineren Dingen nicht das Optimum herausgeholt habe."

Die kleineren Dinge. Damit meinte er sein Rennfahrerdasein.

Die Symbiose mit einem schlauen Taktierer rettet Leclercs Karriere

Und entsprechend fährt er heute an der Seite von Sebastian Vettel bei der Scuderia Ferrari. Er fährt so, als sei es keine große Sache, auf Anhieb zeitweise schneller zu kreisen als ein viermaliger Weltmeister. Als sei es kein großer Aufreger, wenn ein 21-Jähriger gleich in seinem dritten Rennen im Boxenfunk zu maulen beginnt, weil ihn aus dem Kommandostand die Stallorder erreicht hatte, den viermaligen Weltmeister passieren zu lassen. Er fährt so, als sei der Rennsport im Kern zu nichtig, um sich großartig Gedanken zu machen über Regeln und Resultate.

"Ich erkenne in Charles eine große Kraft", hat Mercedes-Teamchef Toto Wolff vor der Saison im SZ-Interview erzählt. Neben dem Tod des Vaters habe Leclerc vor allem das "schwierige finanzielle Umfeld" in seiner Kindheit geprägt. "Ich erkenne schlimme Kindheitserfahrungen in den Lebensläufen vieler erfolgreicher Menschen", sagt Wolff. Sie seien oft resilienter, also widerstandsfähiger gegenüber Rückschlägen jeder Art. Und es gab ja noch weitere. Charles Leclerc verlor nicht nur früh den Vater. Er verlor auch seinen Patenonkel, seinen besten Freund Jules Bianchi.

Leclerc war nah dran, als dieser starb. Im Oktober 2014 raste der Ferrari-Junior Bianchi mit seinem Marussia auf der Strecke in Suzuka in einen Bergungskran, der das Autowrack des Münchners Adrian Sutil aus dem Kiesbett befördern sollte. Neun Monate später erlag er seinen Kopfverletzungen. Bianchis und Leclercs Väter waren ebenfalls beste Freunde. Charles Leclerc trainierte auf der Kartbahn von Philippe Bianchi in Brignoles. Der acht Jahre ältere Jules war eher ein großer Bruder für Charles als sein Patenonkel.

Über die Langsamkeit des Ferraris wird kaum gesprochen

Jules Bianchi half auch, als den Leclercs im Jahr 2010 das Geld für die Motorsportkarriere des Juniors auszugehen drohte. Der Vater war blank, die Sponsoren zahlten noch. Aber es reichte nicht mehr. Es sah so aus, als würde Leclerc sein letztes Jahr als Rennfahrer erleben. Und dann stellte Bianchi den Jungen bei Nicolas Todt vor, seinem Manager. Der Sohn des früheren Ferrari-Teamchefs und jetzigen Präsidenten des Automobil-Weltverbandes Fia sprang ein als Mäzen und Manager von Leclerc junior. Die Leclercs brauchten Geld von Todt. Sie ahnten damals nicht, dass sie Jahre später auch von dessen Kontakten zur Scuderia profitieren würden.

Die Symbiose zwischen dem schlauen Taktierer Todt und dem schnellen Leclerc ließen einen armen Jungen aus Monaco zum Ferrari-Junior und einem Ferrari-Testpiloten aufsteigen, der 2018 beim Rennstall Sauber, einem Satellitenteam der Scuderia, erstmals in ein Formel-1-Auto steigen durfte. Und der nun seit diesem Jahr, seit drei Rennen, seinen Teamkollegen Vettel unter so viel Druck setzt, dass fast nur über Leclercs teaminterne Rebellion geredet wird - und kaum über das größere Problem der Scuderia: die Langsamkeit des Ferrari SF90. Beziehungsweise den Grund, weshalb Ferrari die Kraft seines Motors, der Mercedes überlegen ist, nicht in einen Geschwindigkeitsvorsprung übersetzen kann. Um Abhilfe zu schaffen, präsentierten die Italiener vor dem Rennen in Baku am Sonntag einen rundum erneuerten Rennwagen.

"Es ist mehr der Rummel außen herum, den niemand kontrollieren kann", sagte Vettel, der in Baku erneut viele Fragen über seinen frechen Teamkollegen ertragen musste. Leclerc sagte: "Es ist frustrierend, einen anderen vorbeizulassen." Das klang mehr nach Rummel innen drin. Der Junge, der zum Rennfahrer wurde, nachdem er jahrelang auf das Spektakel in einer Kurve mit dem schon immer trügerischen Namen Sainte Dévote geblickt hatte, wird in Baku wieder angreifen.

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