EM 2024:Aus der Glaskugel winkt Cäptn Kimmich

Nichts ist im Fußball schwieriger als die Talentprognose und doch lässt sich erahnen, wer bei der Heim-EM 2024 für den DFB spielen wird. 2018 war schließlich nur ein vorübergehender Schwächeanfall.

Kommentar von Christof Kneer

Jérôme Boateng wird wahrscheinlich aus New York einfliegen, wenn die deutsche Nationalmannschaft das Eröffnungsspiel der EM 2024 bestreitet. Aus alter Verbundenheit mit der DFB-Elf wird er sein Lifestyle-Imperium "Boa" für ein paar Wochen seinen mit tadellosen Brillen ausgestatteten Geschäftsführern überlassen, ebenso die Fertigstellung des gleichnamigen Trendsport- Magazins, das für seine packenden Titelgeschichten bekannt ist ("Die Adduktoren im Wandel der Zeit").

Es wird überhaupt ein lustiges Wiedersehen geben auf der Tribüne des Eröffnungsspiels, Mats Hummels wird kommen, der Besitzer von "Hummels TV", ebenso Sami Khedira, der Sportvorstand des VfB Stuttgart, und natürlich Thomas Müller, der seine Stand-up-Comedy-Tournee "Ois Müller, oder wos?" extra kurz unterbrochen hat. Manuel Neuer muss von Amts wegen sowieso da sein, seit ihn DFB-Präsident Philipp Lahm zum Botschafter für die Heim-WM 2038 ernannt hat, und auch Toni Kroos hat seine "Gesellschaft für angewandtes Passspiel" kurz alleinlassen können (derweil kümmert sich sein Partner Luka Modric darum, die Fußballkultur in die ärmeren Gegenden der Welt zu bringen).

Es könnte also gut sein, dass die sog. Versager der WM 2018 wieder vollzählig versammelt sind, wenn der deutsche Fußball im Sommer 2024 im eigenen Land ein Fest feiert (außer Jonas Hector, der dann vermutlich gerade ein Testspiel mit dem 1. FC Köln bestreitet). Es ist sogar wahrscheinlich, dass einige der 2018er-Versager in der 2024er-Elf tragende Rollen spielen werden, Joshua Kimmich etwa, der mit dann 29 Jahren in einem ausgezeichneten Kapitänsalter sein wird.

Nichts ist im Fußball schwieriger als Talentprognose, kein Jugendcoach kann verlässlich abschätzen, welcher seiner 15-Jährigen tatsächlich eine Karriere vor sich hat. Körper verändern sich, manche Talente stagnieren, andere blühen auf, und so ist es zwar ein wunderbares, aber eben auch wunderbar sinnloses Spiel, die aktuelle deutsche U 16-Auswahl auf die Heim-EM hochzurechnen. Wer 2024 die 21-jährigen Hoffnungsträger sein werden, kann nur vorhersagen, wer eine wirklich hoch entwickelte Glaskugel besitzt.

Was man aber schon weiß oder zumindest seriös ahnt: wer einige der End- oder Mittzwanziger sein könnten, die das Team dann tragen. Joshua Kimmich im Mittelfeld, vielleicht Leon Goretzka, dazu die Verteidiger Niklas Süle und Jonathan Tah, der Flügelspieler Leroy Sané, natürlich der Stürmer Timo Werner - an der Seite dieser 2018er-Zeitzeugen erwarten Experten vielleicht den Verteidiger Thilo Kehrer oder die Mittelfeldspieler Kai Havertz, Arne Maier und Maxi Eggestein. Im Sturm aber wird der deutsche Fußball etwas erfindungsreicher werden müssen, um Timo Werner zu entlasten - vielleicht hilft Jann-Fiete Arp, der den HSV vorher sicherheitshalber verlassen sollte.

Solche Gedankenspiele reichen schon, um den Unterschied zum letzten Heimturnier deutlich zu machen. Allen aktuellen Abbruchszenarien zum Trotz ist die Ausgangslage sechs Jahre vor der EM 2024 unvergleichlich luxuriöser als sechs Jahre vor der WM 2006. Damals blieb dem Experimentalcoach Jürgen Klinsmann nichts anderes übrig, als eine Trial-and-Error-Elf zu bauen, in der Menschen namens Moritz Volz und Frank Fahrenhorst (Kosename: Gefahrenhorst) zu Nationalspielern wurden. Das Vorrunden-Aus bei der EM 2004 glich einem totalen Organversagen; das Vorrunden-Aus 2018 könnte ein massiver, aber vorübergehender Schwächeanfall gewesen sein.

Der deutsche Fußball muss an sich arbeiten, aber er ist viel besser vorbereitet als vor dem letzten Heimturnier. Davon könnte auch Jogi Löw profitieren, der seinen Vertrag kurz vor der Heim-EM 2024 bestimmt noch mal bis 2038 verlängert.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: