Diskussion um Philipp Lahm:Ungebremst in die Kreuzung

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Philipp Lahm leistete sich gegen Ghana ungewohnte Fehler.

(Foto: AFP)

Deutschland ist nicht der FC Bayern. Philipp Lahm tut sich im Mittelfeld der Nationalmannschaft ungewöhnlich schwer. Dennoch will Jogi Löw seinen Kapitän dort belassen. Aber der Bundestrainer muss aufpassen, dass die öffentliche Debatte über Lahm nicht zu einer internen wird.

Von Christof Kneer, Santo André

Wenn das Spiel zu Ende ist und Philipp Lahm vom Platz kommt, sieht er aus der Ferne betrachtet immer noch wie ein Jugendspieler aus. Da steht dann ein kleiner Kerl am Spielfeldrand vor irgendeinem Mikrofon, und wenn die Kamera näherzoomt, erkennt man ein Gesicht, dem man die Gnade der Jugend ansieht.

Freundlich und unangestrengt sieht der Bursche meistens aus, und fast immer erweckt er den Eindruck, als könne er gleich noch einmal 90 Minuten spielen. Kein Wunder wahrscheinlich, wenn man 21 ist oder vielleicht auch 23.

Philipp Lahm ist im vergangenen November 30 geworden, das kann man glauben oder nicht. Er hat vom ersten Karrieretag an eine alterslose Spielweise kultiviert, zu deren hervorstechendsten Merkmalen auch gehört, keine Fehler zu machen.

Lahm ist ein Spieler, dem es auf unnachahmliche Art gelingt, sich auch an den wenigen nicht so guten Tagen so seriös über die Runden zu spielen, dass die notorischen Notengeber die schlechten Zensuren stecken lassen. Lahm und die kicker-Note 5? Gab es selten.

Lahm ist ein Spieler, den jeder schätzen muss, der Fußballverstand hat, aber er ist auch ein Spieler, der polarisiert. Seine mühelose Art, auf höchstem Niveau konstant Fußball zu spielen, seine verbindliche Art, Macht auszuüben - das sind zwei Eigenschaften, die dazu führen, dass sofort eine Debatte anrollt, wenn der Fehlerlose mal beim Fehler erwischt wird.

Zumal zur besten Sendezeit, zumal bei einer WM - wie jetzt in Brasilien, wo Lahm im Auftaktspiel gegen Portugal zweimal mit lahmfremden Ballverlusten auffiel; und erst recht im zweiten Spiel gegen Ghana, als sein Pass zu Sami Khedira nicht bei Sami Khedira ankam. Ein paar Sekunden später lag der Ball im deutschen Tor.

Nach beiden Spielen sah Philipp Lahm aus wie ein Spieler, der im vergangenen November 30 geworden ist. Lahm stammt aus der italienischsten Stadt Deutschlands, aus Monaco, Ortsteil Gern, aber er mag Hitze nicht so sehr. Er wäre am liebsten nach fünf Minuten ausgewechselt worden, hat Lahm vor zwei Jahren nach einem EM-Spiel in Lemberg/Ukraine gesagt, in dem die Fußballverbände damals freundlicherweise brasilianische Temperaturen simulieren ließen.

Für einen Schwerelosen hat Philipp Lahm erstaunlich schwer in dieses Turnier hineingefunden, ausgerechnet der Kapitän steht jetzt im Zentrum einer Personaldebatte, die in den Medien und in den anonymen Tiefen des Internets ausgetragen und von sog. Gurus wie Guido Buchwald oder Olaf Thon befeuert wird.

Die Debatte besteht aus mehreren Fragen: Ist es nicht Ressourcen-Verschwendung, den besten Rechtsverteidiger der Welt ins Mittelfeld zu ziehen und dafür einen Menschen namens Mustafi nach hinten rechts zu stellen? Muss Bundestrainer Löw nicht ein Machtwort sprechen und seinen Kapitän in die Abwehr zurückbefehlen? Und: Ist dieser Lahm überhaupt ein Mittelfeldspieler?

Deutschland ist nicht der FC Bayern

"Philipp passieren normalerweise wenig Fehler, diesmal waren es zwei, drei", hat Löw nach dem 2:2 gegen Ghana gesagt und hinzugefügt, der Rasen in Fortaleza sei "sehr stumpf" gewesen, "da hatten sich vor allem unsere technisch guten Spieler schon im Training schwer getan". Es war der ehrenwerte Versuch, seinen Kapitän aus der Debatte rauszuhalten, während der Kapitän selbst das von ihm mit initiierte Gegentor im Stakkato-Stil zusammenfasste: "Ballverlust, schnell umgeschaltet, Ball in die Tiefe, dann Gegentor."

Viel mehr wird Lahm im Moment kaum zum Thema beitragen, aus zweierlei Gründen. Erstens weiß er, dass Löw ihm vertraut, es gibt klare Signale aus dem Trainerstab, wonach der Kapitän auf jeden Fall im Mittelfeld bleibt - zumal seine Spielintelligenz wegen den angeschlagenen Nebenleuten Khedira und Schweinsteiger dort noch dringender gebraucht wird als ohnehin.

Aber der Kapitän möchte es - zweitens - auch vermeiden, analytisch in die Tiefe zu gehen. Er müsste dann sagen, dass er vor dem besagten Gegentor eigentlich nur das getan hat, was man von einem zentralen Mittelfeldspieler idealtypisch zu erwarten hat: Er hat den Ball angenommen, mitgenommen und gleich weitergespielt, fünf Meter rüber zu Khedira, direkt in den Fuß. Khedira wollte den Ball durchlassen, aber der Ghanaer Muntari hatte eine bessere Idee. Er schnappte sich den Ball und spielte ihn Gyan in den Lauf, der auch eine gute Idee hatte: Er schoss ihn ins Tor.

Macht Lahm auf einmal Fehler, oder denkt er nur zu schnell für seine Mitspieler? Das Problem ist, dass solche Debatten selten fachlich geführt werden, erst recht nicht bei einem öffentlichen, mit Emotionen überfrachteten Großereignis wie einer WM. Es wird nun Löws Aufgabe sein, die öffentliche Debatte nicht zu einer internen werden zu lassen.

Philipp Lahm spielt in diesen Wochen im zentralen Mittelfeld der deutschen Nationalelf, nicht im zentralen Mittelfeld des FC Bayern. Lahm weiß, dass das ein Unterschied ist. Er hat jetzt ein paar andere Spieler um sich herum, es sind auch Spieler dabei, die die Automatismen des FC Bayern nicht intus haben, weil sie nicht beim FC Bayern spielen.

Vor Ghanas Gegentor dürfte sich Lahm vorgekommen sein wie ein Autofahrer, der auf eine Kreuzung zufährt, die beim FC Bayern immer frei ist. In der Nationalelf steht da aber plötzlich ein Auto herum, der Fahrer kann nicht rechtzeitig bremsen, und nachher ist er schuld.

Man habe es "taktisch nicht so klug gemacht, nicht so clever", hat Lahm nach dem Ghana-Spiel vorsichtig gesagt, "die Raumaufteilung hat nicht so funktioniert". Nach menschlichem Ermessen haben die Deutschen aber noch ein paar Spiele Zeit, um einheitliche Verkehrsregeln im Mittelfeld einzuüben.

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