DFB-Elf gegen Italien:Löw rätselt über den Angstgegner

Ausgerechnet Italien soll der deutschen Nationalmannschaft den Testspielmodus austreiben - der Bundestrainer will ein Mysterium lösen.

Von Christof Kneer

Sami Khedira war knapp 19 Jahre alt, und als aufgeklärter Jungprofi hat er bestimmt mitbekommen, dass die Sportart, in der er eigentlich Karriere machen wollte, im März 2006 unmittelbar vor ihrer Abschaffung stand. Man kann Khedira nachträglich nur wünschen, dass er damals wenigstens nicht mitbekommen hat, wie zwei inzwischen zurecht vergessene Politiker den Trainer Klinsmann nach einem 1:4 in Italien vor den Sportausschuss des Bundestages zitieren wollten, wegen Vaterlandsverrats möglicherweise.

Grundsätzlich hatte Khedira damals aber anderes zu tun, als sich um den deutschen Fußball Gedanken zu machen. Khedira machte sich Gedanken um sein Knie. Beim VfB Stuttgart hatte der Nachwuchsspieler zwar schon mal bei den Profis mittrainieren dürfen, die von einem berühmten Trainer aus dem 4:1-Land trainiert wurden (Trapattoni). Aber dann verletzte sich Khedira zum zweiten Mal, und es gab Ärzte, die dem jungen Mann ernsthaft von einer Karriere als Leistungssportler abrieten.

Zehn Jahre später sitzt Khedira, inzwischen knapp 29, auf dem Pressepodium der deutschen Nationalmannschaft und er sagt dort oben staatstragende Sätze wie jenen, dass "jeder, der Bastian Schweinsteiger abschreibt, einen großen Fehler macht". Sami Khedira darf heute Regierungserklärungen unters Volk bringen, er hat sich weder von seinem Knie noch vom VfB noch von ein paar zurecht vergessenen Politikern davon abhalten lassen, Karriere zu machen. Er spielt inzwischen sogar im Land des Peinigers von einst.

DFB-Team muss gegen Italien "liefern"

Es sei ja "ein Phänomen", dass die Italiener "sich gegen Deutschland einfacher tun", sagte am Montag also Khedira, inzwischen anerkannte Stammkraft bei Juventus Turin. Damit war das Thema des Länderspiels in München (20.45 Uhr im SZ-Liveticker) präzise benannt: Klar ist ja nicht nur, dass sich die deutschen Nationalspieler durch das verschlamperte 2:3 gegen England "selbst unter Druck gesetzt haben" und nun "liefern müssen", wie Löws Assistent Thomas Schneider einräumte; geliefert werden muss dabei - ausgerechnet - gegen die Italiener.

Der Italiener um die Ecke gilt als Lieblingsort aller Deutschen, die Fußballer des Landes dagegen gehen deutlich lieber zum Brasilianer. Die Italiener zählen neben den Spaniern zu den letzten Rätseln, für die Joachim Löw noch keine einleuchtende Lösung gefunden hat. Am nächsten kam er einer Lösung noch bei der WM 2014, als Italiener und Spanier strategisch so geschickt ausschieden, dass sie Löw auf seinem Weg zum Titelgewinn nicht mehr in die Quere kamen.

Wer deutsche Turnieraussichten bewerten will, muss also immer erst mal einen Seitenblick aufs Turniertableau riskieren, und in diesen Tagen hat man nun lernen können, dass das sogar für die Spieler gilt, die sonst eigentlich nur in die Öffentlichkeit dürfen, wenn sie den Satz "ich denke nur ans nächste Spiel" mit glaubwürdigem Augenaufschlag sagen können.

Bei der EM könnte Italien Gegner im Viertelfinale sein

"Mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit" treffe man bei der EM auf Italien, so respektvoll verschraubt hat es Torwart Manuel Neuer am Wochenende formuliert, und auch Khedira sagte am Montag, er habe sich mit dem Spielplan zumindest so weit befasst, dass er nun wisse, "dass sich im Viertelfinale die Wege mit Italien kreuzen könnten". Langer Rede kurzer Sinn: In der Vorrunde, in der bis zu drei Teams weiterkommen, könnte Deutschland es sich wohl leisten, Rüdiger und Can und Rudy und Mustafi einzusetzen, ebenso im Achtelfinale, dann vermutlich gegen einen Gruppendritten.

Aber im Viertelfinale muss Deutschland wind- und wetterfest sein. Wenn es blöd läuft, beginnt im Viertelfinale das Turnier und ist dann auch schon wieder rum.

Dieses Szenario darf man sich ruhig mitdenken, wenn die DFB-Elf nun in München jenen Italienern begegnet, die schon bei der EM 2012 Schicksal gespielt haben. Damals haben die Italiener dem DFB das Halbfinal-Aus und dem Trainer Löw ein paar unfreundliche Debatten über seine Aufstellung beschert, und so sollte Italien nun der ideale Gegner sein, um jenen "Testspielmodus" zu deaktivieren, den Thomas Müller nach dem 2:3 gegen England recht lässig eingestand. "Dass er so was sagt, ehrt ihn", meint Co-Trainer Schneider, es sei auch "ein Stück weit menschlich".

Wem kann Löw neben den Stammkräften vertrauen?

In der Teamleitung haben sie beschlossen, einstweilen auf größeres Alarmgebrüll zu verzichten, zu sehr vertraut Löw dem Verantwortungsbewusstsein seiner führenden Kräfte. Natürlich wisse die Elf aus eigener Erfahrung, dass man in der unmittelbaren Turniervorbereitung viele Probleme lösen könne, sprach also Khedira, "aber es ist nicht so, dass wir sagen: Bis dahin ist uns alles egal".

Das England-Spiel habe dem Team "die Augen geöffnet", man könne es sich eben nicht leisten, "gegen einen Topgegner nach 45 oder 60 ordentlichen Minuten bequem zu werden und den Betrieb einzustellen". Und es gebe ja auch noch Spieler, die sich dem Bundestrainer zeigen wollten, "und ich hoffe, dass wir das alles gegen Italien sehen werden".

Wer sich Löws Italien-Zyklus vergegenwärtigt, der merkt bald, dass sein 2016er-Team viel wettbewerbshärter ist als jene Teams, die 2006 und 2012 ihr Italien-Erlebnis hatten. Khediras Regierungserklärung lässt sich aber auch entnehmen, wo neben den bekannten Problemzonen (Außenverteidigung, Sturm) eine weitere Problemzone liegt. Zwar weiß Löw aus eigenem Erleben, dass er Neuer, Khedira, Kroos, Müller, Boateng, Hummels und Özil im Ernstfall vertrauen kann - aber gilt das auch für die Hierarchie-Ebene darunter, für Reus, Schürrle und Draxler, oder für die Jungs ohne Turniererfahrung, für Bellarabi, Hector, Can und Tah?

Solche Spieler sind es, die sich Löw gegen Italien aufdrängen müssen; auch ein Torwart - vermutlich Marc-André ter Stegen - wird für sich werben dürfen, nachdem Manuel Neuer (Magenverstimmung) geschont wird. Löw weiß, dass er eine kompakte Gruppe braucht, um kompakt spielen lassen zu können. Aber er weiß auch, dass er daran arbeiten darf, ohne den Sportausschuss des Bundestages fürchten zu müssen.

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