Deutschland bei der Fußball-WM:Kroos zwirbelt die Hoffnung zurück

Deutschland bei der Fußball-WM: Toni Kroos trifft, schießt und jubelt.

Toni Kroos trifft, schießt und jubelt.

(Foto: AFP)

Von Martin Schneider, Sotschi

Als Deutschland am Abgrund balancierte, hatte Toni Kroos eine Idee. Noch einmal gab es Freistoß, Timo Werner hatte ihn nach seinem hundertsten Sprint herausgeholt. Links am Strafraum stand also Toni Kroos, hinter ihm zitterte der Fanblock, in der Kabine saß Jérôme Boateng nach seiner gelb-roten Karte und vor Kroos stand Marco Reus. Kroos deutete Reus an: Stopp mir den Ball. Kroos passte, Reus stoppte und dann rauschte der Ball durch den Schwarzmeer-Wind, der ins Stadion wehte, in den Winkel. Der Rest war Explosion und Ekstase.

Deutschland hat bei diesem WM-Turnier eine Zukunft nach einem 2:1-Sieg gegen Schweden - in einem Spiel, bei dem die Mannschaft kurz davor war, alles zu verlieren. "Letztendlich war es verdient, weil wir an uns geglaubt haben", sagte Bundestrainer Joachim Löw in der ARD. Torschütze Kroos ergänzte: "Jetzt müssen wir uns erholen, müssen Südkorea schlagen und überzeugend auftreten."

Das zweite Tor hätte sofort fallen können - nicht erst in der 95. Minute

Dieser Tanz am Abgrund, der mit dem Donnerschuss von Toni Kroos endete, begann mit einem Pass von Toni Kroos wie ein leichter Wind. Er war in der 31. Minute für İlkay Gündoğan gedacht, aber er kam dort nie an. Marcus Berg, der ehemalige HSV-Spieler, dachte schneller als Kroos, Konter Schweden. Kroos lief zurück und schaute dem Ball nach, den er verloren hatte. Und dann verlor er auch noch die Orientierung. In die Mitte hätte Kroos laufen müssen, aber er lief Richtung Außenlinie und so segelte die Flanke von Viktor Claesson über ihn, er schaute noch, drehte sich, aber es war zu spät. Antonio Rüdiger, Kroos' letzte Rettung, kam zu spät, Jonas Hector war so weit vorne, dass er keine Chance hatte, zu spät zu kommen. Und dann war der Ball drin. Ola Toivonen hatte geschossen, von Rüdigers Bein flog er über Manuel Neuer ins Tor. Die schwedischen Fans sangen: "Deutschland, auf Wiedersehen".

Aber dann kam die Halbzeit. Vielleicht wird irgendwann jemand erzählen, wer was wie laut gesagt hat. Vielleicht werden die Worte von Löw irgendwann überliefert werden, aber es waren Worte der Wende. Mario Gomez kam in der Halbzeit für Julian Draxler, aber vor allem kam da eine andere deutsche Mannschaft aus der Kabine. Eine mit Körperspannung, Selbstvertrauen, eine ohne Angst. Es geschah dies: 46. Minute, Flanke Müller, abgewehrt. 47. Minute, Flanke Kimmich, abgewehrt. 48. Minute, Querpass Werner, Reus, Tor, 1:1.

Das zweite Tor, es hätte sofort fallen können. Ein Schuss von Kroos wurde abgefälscht, ein Kopfball von Müller landete nach einer Kroos-Flanke neben dem Tor, in der 56. Minute schoss Jonas Hector ein bisschen zu lasch - Torwart Robin Olsen hatte keine Probleme. In dieser Phase hätten die Deutschen den Abgrund verlassen können, hätten den Puls der Nation beruhigen können. Stattdessen pochte ihnen selbst das Herz wieder höher.

Boateng holte sich die erste gelbe Karte in der 71. Minute ab nach einem taktischen Foul, dann rauschte er in der 82. Minute in Marcus Berg rein - Gelb-Rot. Als Boateng vom Platz ging und Bundestrainer Löw ratlos an der Seitenlinie stand - da schien der Schuss von Toni Kroos Lichtjahre entfernt. Und als Gomez mit einem Kopfball und Julian Brandt in der 91. Minute mit einem Schuss gegen Pfosten scheiterten - da fingen viele schon an zu rechnen, wie man mit einem 1:1 noch weiterkommen sollte.

Löw bringt vier neue Spieler und wird spät belohnt

Das Phänomen dieses Spiels war ja dieses: Das DFB-Team startete auf die gleiche Weise in die erste Halbzeit wie in die zweite. Deutschland wollte alles und zwar sofort. In der dritten Minute verpasste Werner ein super Zuspiel auf Draxler, kurz darauf scheiterte Jonas Hector mit einem Distanzschuss am elchbreiten Rücken des alten Schweden Andreas Granqvist, nach zehn Minuten zeigte die Statistik unglaubliche 122 zu sechs Pässe.

Dann kam die zwölfte Minute. Antonio Rüdiger wagte als letzter Mann im Zentrum ein Dribbling. Eigentlich wollte das deutsche Team solche Hochrisiko-Aktionen nach dem Mexiko-Spiel vermeiden, aber Rüdiger dribbelte trotzdem, verlor den Ball, und Berg rannte allein aufs deutsche Tor zu. Er rannte, rannte, rannte - und dann kamen das Bein von Jérôme Boateng und die rechte Hand von Manuel Neuer. Die Hand von Neuer blockte den Schuss, das war lebenswichtig, aber das Bein von Boateng, das traf doch ziemlich eindeutig das Bein von Marcus Berg. Schiedsrichter Szymon Marciniak und die Videoschiedsrichter entschieden: Kein Elfmeter, und kein Mensch auf der Welt hätte sich beschweren können, wenn sie es andersrum entschieden hätten. Es wäre zu diesem Zeitpunkt schon Rot für Boateng gewesen.

Für Rudy endet die Partie blutüberströmt

Deutschland kam in dieser Situation nochmal davon - aber nach diesem Konter konnte man sehen, wie das große Wackeln begann. Marcus Berg hatte eine Nadel in den dünnen Luftballon namens deutsches Selbstvertrauen gesteckt, und plötzlich war es nicht mehr das Spiel Deutschland - Schweden, es war wieder das Spiel Deutschland - Mexiko. Ballverlust Deutschland, Konter Schweden über rechts, Boateng blockt. Ballverlust Kroos, Konter Schweden durch die Mitte, Boateng und Rüdiger retten.

Der einzige Unterschied zum Spiel in Moskau war in diesen Minuten die Aufstellung. Vor dem Mexiko-Spiel war ja vorhersehbar, wie Löw spielen lassen würde, vor diesem Spiel war das überhaupt nicht klar, und trotz unzähliger Startelfvorhersagen tippte niemand auf diese Formation. Für den angeschlagenen Mats Hummels kam Rüdiger statt Niklas Süle in die Elf, das war noch die am wenigsten sensationelle Entscheidung, weil Löw als Rüdiger-Fan gilt. Aber dann: Sebastian Rudy im defensiven Mittelfeld. Nicht Sami Khedira, nicht Gündoğan, nicht Leon Goretzka - nein, Rudy, der zuletzt beim FC Bayern keine Rolle gespielt hat. Und vorne stellte Löw zum ersten Mal seit 2010 in einem Turnier-Spiel nicht Mesut Özil auf. Reus rückte für ihn die Mannschaft, und Özil kickte vor dem Spiel mit schwarzen Ohrsteckern bei den Ersatzspielern. Und der gesundete Hector kam für Marvin Plattenhardt - aber die Änderung fiel vor lauter Überraschung über diese Oha-Aufstellung gar nicht mehr auf.

Für Rudy war das Spiel dann nach 30 Minuten schon zu Ende. Bei einer Grätsche bekam er die rechte Ferse von Toivonen ins Gesicht. Er blutete aus der Nase, musste raus, tauschte das Trikot, die Ärzte versuchten, die Blutung zu stillen und schafften es nicht - nach dem Spiel vermutete Löw, dass Rudy einen Nasenbeinbruch erlitten hatte. Gündogan kam für ihn in ein wankendes Team. Sekunden später fiel der Gegentreffer, der sich zu dem Zeitpunkt längst angedeutet hatte. Es war dann der Kapitän, Manuel Neuer, der mit den Armen ruderte, motivierte, während seine Mitspieler am Mittelkreis standen und darauf warteten, dass die Schweden mit dem Jubeln fertig waren.

Irgendjemand in einem Fernsehstudio wird vielleicht mal die Bilder nach dem 0:1 und die Bilder nach dem 2:1 nacheinander schneiden. Sie sagen viel aus über dieses Spiel, bei dem Deutschland dem Aus nochmal von der Schippe sprang.

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