Champions League:Boxhiebe bei Sonnenuntergang

Beim Triumph gegen Juventus stellt Real Madrid unter Beweis, dass es den besten Kader der Welt hat.

Von Javier Cáceres, Cardiff

Santiago Solari, 40, stand auf der Tribüne des Millennium Stadiums in Cardiff, die Arme vor der Brust verschränkt, den Rücken an eine Wand gelehnt, und es war ihm anzusehen, dass durch seinen Kopf auch Erinnerung strömte. Denn das Gefühl, das unten auf dem Rasen allgegenwärtig war und das ihn 15 Jahre zurückkatapultierte, das kennt er nur zu gut.

2002 stand Solari in der Elf, die in einer anderen Ecke des Vereinigten Königreichs, in Glasgow, gegen Bayer Leverkusen siegte, im Jahr des 100. Geburtstags von Real Madrid; von Solari ging der Spielzug aus, der in eines der berühmteren Finaltore der Champions-League-Geschichte mündete: den Volleyschuss von Zinédine Zidane in den Winkel. Heute ist Solari Trainer der zweiten Mannschaft von Real Madrid, doch hin und wieder arbeitet er als Kommentator für einen lateinamerikanischen TV-Sender, so wie hier in Cardiff, wo er nach getaner Arbeit dabei zusah, wie sich unten auf dem Rasen alles in ein bewegliches Wimmelbild verwandelte.

Mit 4:1 hatte Real Madrid soeben Juventus Turin geschlagen, damit den zwölften Königsklassen-Triumph der Vereinsgeschichte geholt und dabei, quasi im Vorübergehen, ein paar Rekorde gebrochen: "Impresionante", sprach der frühere argentinische Nationalspieler Solari und presste die Lippen aufeinander. "Wirklich beeindruckend."

Immerhin: Diesmal hatte es Real mit einem Schiedsrichter ohne erkennbaren Drall zu tun

Das ist es, ja. Es war das erste Mal seit 1958, seit dem letzten Spiel des mythischen Alfredo Di Stéfano im weißen Dress, dass Real Madrid sowohl die heimische Meisterschaft als auch die wichtigste Trophäe des europäischen Klubfußballs holte. Und die Madrilenen sind auch die ersten, die nach der Umstellung auf das Champions-League-Format in den 90er Jahren den Titel verteidigen konnten, im vergangenen Jahr hatten sie gegen Atlético gewonnen - wie schon im Jahr 2014, womit auch das festzustellen wäre: Von den vergangenen vier Champions-League-Trophäen hat sich Real gleich drei gegriffen.

Champions League: Party mit einer Göttin: Marcelo und Kapitän Sergio Ramos passieren bei der Jubelfahrt durch Madrid die Statue der verehrten Kybele an der Plaza de Cibeles.

Party mit einer Göttin: Marcelo und Kapitän Sergio Ramos passieren bei der Jubelfahrt durch Madrid die Statue der verehrten Kybele an der Plaza de Cibeles.

(Foto: Oscar del Pozo/AFP)

Kurz nach Schlusspfiff postete Toni Kroos, der als erster Deutscher zum dritten Mal die Champions League gewann (2013 mit dem FC Bayern, 2016, 2017 mit Real), ein Foto, das an Kitsch kaum zu übertreffen war: ein Sonnenuntergang, der großohrige Pokal und das Wappen von Real Madrid. Aber es stimmt ja: Kein Verein der Welt beherrscht die Kunst, die Copa de Europa so zu gewinnen wie Real Madrid. Der Triumph von Cardiff zeige, "dass die Erfolge Reals in diesem Wettbewerb den Trägheitsgesetzen folgen. Hinter Real steht eine Geschichte", sagt Solari.

Nun hat man beileibe nicht nur in München den Eindruck, dass den angeblichen Lehrsätzen der Physik im Königsklassen-Pokal mitunter nachgeholfen wird. Die Worte, die Bayern-Boss Karl-Heinz Rummenigge nach dem Viertelfinale ("Wir sind beschissen worden!") wählte, hallen immer noch nach, und in Spaniens Liga wurde das Team auf mitunter erstaunliche Weise begünstigt. Tatsächlich hatte es Real nun in Cardiff zum ersten Mal nach langer Zeit wieder mit einem Schiedsrichter ohne erkennbaren Drall zu tun. Der deutsche Referee Felix Brych beging im Grunde nur einen Fehler, als er auf die beschämende Schauspielerei von Reals Kapitän Sergio Ramos hereinfiel und Juves Einwechselspieler Juan Cuadrado vom Platz stellte.

Doch zu diesem Zeitpunkt hatte Real das Finale längst entschieden, Juve lag da längst auf den Brettern. Es mutete am Ende durchaus ironisch an, dass das circensischste Tor dieses Endspiels ausgerechnet von den als zynisch und pragmatisch verschrienen Italienern kam: Zu bestaunen gab es einen herrlichen Fallrückzieher von Mario Mandzukic (27.) zum 1:1.

Cristiano Ronaldo hat in der Champions League nun 105 Tore erzielt - mehr als jeder andere

Verglichen damit, hielt sich Real Madrid nicht mit Fragen der Ästhetik auf. Einerlei, ob man über die Treffer von Ronaldo (20./64.), Casemiro (61.) oder Marco Asensio (89.) spricht: Es waren Hiebe, die auf die Psyche der Italiener wirkten wie Boxhiebe von Mike Tyson. "Wenn du vier Tore gegen Juve machst, die vorher nur drei im gesamten Wettbewerb bekommen haben, dann ist das eine Aussage", sagte Toni Kroos, der den ersten Treffer einleitete und einen großen Anteil daran hatte, dass Real den Ball, das Mittelfeld und damit das Spiel beherrschte. Vor allem nach der Pause.

Da war das aktuell wohl unerreichbare Potenzial Madrids konturenreicher denn je zu begutachten. "Dies ist eine Elf mit enorm viel Talent, eine wunderbare Generation an Spielern, die sich untereinander sehr gut verstehen", berichtet Solari, der die Spieler tagtäglich in Reals Sportstadt in Valdebebas sieht. Und es ist verrückt, dass Real Madrid, dessen Präsident Florentino Pérez die Mannschaft so lange nach dem Name-dropping-Prinzip zusammenzubauen schien, ausgerechnet in jenem Jahr Geschichte schreibt, in dem der Klub so gut wie kein Geld in den Markt pumpte.

30 Millionen Euro für Stürmer Álvaro Morata, das war's. Peanuts. Gleichwohl verfügt Real über den derzeit wohl besten Kader der Welt, "mit jeweils zwei exzellenten Spielern pro Position", wie Solari urteilt. In Cardiff konnte Real Madrid es sich leisten, Danilo, Nacho, Kovacic, Bale und Morata auf der Bank zu lassen, für Pepe, James und Lucas Vázquez war nicht mal dort Platz, sie mussten auf die Tribüne.

Trainer Zidane habe diese Saison "phänomenal verwaltet und den letzten Tropfen Begabung aus der Elf ausgepresst", fügt Solari hinzu, "die Rotationen, die er vorgenommen hat, haben es Real ermöglicht, die Zielgrade der Saison mit frischeren Beinen als andere anzutreten. Auch das hat man in der zweiten Hälfte gegen Juve gesehen." Zidane habe "es geschafft, jedem das Gefühl zu geben, dass er wichtig ist", sagt Toni Kroos. In der vergangenen Saison schossen nur zwei Spieler kein einziges Tor: Linksverteidiger Coentrao sowie Rechtsverteidiger Carvajal.

Am Ende standen auch die Namen der Hauptdarsteller des Finales fast sinnbildlich für die überbordende kollektive Kraft, die Reals Belegschaft in diesem Jahr auszeichnet: Marco Asensio, der mit 21 Jahren die Zukunft repräsentiert; Casemiro, 25, der die Gegenwart verkörpert und dem Team defensiven Halt gegeben hat - und, alle überstrahlend, Cristiano Ronaldo, 32.

"Er ist ein Tier. Er hat eine Ära begründet, die im Klub und außerhalb anerkannt wird. Dieser Kerl kennt kein Limit. Er hat seine Position geändert, spielt jetzt eher Mittelstürmer, und er schießt immer noch Tore", sagte Solari. Dem Portugiesen dürfte der Goldene Ball des Weltfußballers kaum noch zu nehmen sein.

"Wir haben als Mannschaft eine unfassbare Saison gespielt, auch in der Champions League gegen Bayern, Atlético und heute", sagte Kroos. "Aber wenn du das Ding gewinnen willst, brauchst du einen, der die Tore schießt. Und das hat Cristiano unglaublich gemacht." Der Portugiese ist der Hauptverantwortliche dafür, dass Real gegen Juve der Serie von 64 Spielen mit mindestens einem eigenen Treffer ein weiteres anfügte. Ronaldo erzielte gegen Juve seine Pflichtspieltreffer Nummer 599 und 600, allein in der Champions League hat er nun 105 Tore, mehr als jeder andere.

Er habe einen der besten Momente seiner Karriere erlebt, sagte Ronaldo in Cardiff. "Ich darf das zwar jedes Jahr sagen, aber es stimmt einfach", fügte er hinzu und rechnete mit jenen ab, die ihm nicht genug huldigen. "Sie werden keine Worte finden, denn Zahlen lügen nicht."

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