Brasilien:Auf dem Weg zur Erneuerung

Brasilien: Posieren mit dem Pokal: Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro hat den Spielern die Trophäe weggeschnappt und sonnt sich nun in deren Glanz.

Posieren mit dem Pokal: Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro hat den Spielern die Trophäe weggeschnappt und sonnt sich nun in deren Glanz.

(Foto: CARL DE SOUZA/AFP)

An symbolträchtiger Stätte feiert die Fußball-Auswahl ihre neunte Südamerika-Meisterschaft. Beim 3:1-Finalsieg über Peru deutet die Seleçao aber allenfalls an, wozu sie wirklich fähig ist.

Von JAVIER CÁCERES, Rio de Janeiro

Das Finale war beendet, die Pressekonferenz mit dem brasilianischen Trainer Tite auch, da trat Léo Batista vor die Tür und zündete sich erst einmal eine Filterzigarette an. Batista, 87, ist Teil der brasilianischen Fußballfolklore, weil er jahrzehntelang in den Wohnzimmern der Brasilianer zu Gast war. Das erklärte, dass Tite und sein Assistent Cleber auf dem Podium ihm eine Reverenz erwiesen, als er in der Pressekonferenz das Mikrofon an sich riss. Und die Augen der Trainer auch dann noch leuchteten, als sich seine "preguntinha", die kleine Frage also, die er angekündigt hatte, längst zu einem 15-minütigen Monolog ausgewachsen hatte, zu einem Ritt durch die Geschichte.

Jogo bonito, das schöne Spiel, auf dem alle Marketingkampagnen fußen? Das war einmal

Später, als die Zigarette aufgeraucht war und seine Kollegen von Sport TV warteten, um noch ein letztes Gespräch mit ihm aufzuzeichnen ("Wir müssen jetzt, Léo"), erzählte Batista von 1950. Wie auch er damals im Maracanã dabei gewesen war und geweint habe, ebenso wie die 200 000 Menschen, die im Stadion gewesen sein sollen, als Brasilien gegen Uruguay 1:2 verlor. Batista aber weinte nicht, weil der sicher geglaubte WM-Titel verloren gegangen war, das Drama des "Maracanazo". Sondern weil er damals, als 18-Jähriger, das Spiel für seinen Sender, eine Radiostation aus dem Umland São Paulos, übertragen wollte - und scheiterte: Er konnte die seinem Sender zugeordneten Telefonkabel nicht identifizieren, Satelliten und Internet gab es damals nicht.

Jene epochale Niederlage war ein besonderer Tag: Nie wieder hat Brasilien danach ein Pflichtspiel im Maracanã verloren, auch am Sonntag hielt die Serie: Brasilien siegte im Endspiel der Copa América 3:1 gegen Peru - und gewann die Südamerika- Meisterschaft zum neunten Mal in seiner Geschichte. Am Vorabend des fünften Jahrestags des 1:7 gegen Deutschland im WM-Halbfinale von 2014 - der anderen WM im eigenen Land, die Brasilien mit einem Donnerschlag verlor -, am Tag nach dem Tod des großen Bossa-Nova-Revolutionärs João Gilberto, dem mit einer Schweigeminute gedacht wurde. "Natürlich war dieser Sieg heute wichtig", sagte Batista, der alles gesehen hat, was Brasiliens Fußball-Geschichte ausmacht: "Er ist eine Marke auf dem Weg zur Erneuerung."

Fußballerisch ist sie weiterhin nötig, diese Erneuerung. Der Sieg der Seleçao gegen Peru hatte von allem etwas, was die Wurzeln des brasilianischen Fußballs ausmacht, und doch von keinem dieser Elemente genug. Da schienen die Unbekümmertheit und das Talent des jungen Éverton durch, des einzigen Spielers aus der Startelf, der noch in der brasilianischen Liga agiert; er schoss das erste Tor (15.) und bereitete das letzte insofern vor, als er einen durch Richarlison in der 90. Minute verwandelten Elfmeter herausholte. Dort wiederum gab es etwas Epik, die daraus erwuchs, dass Brasilien den Rückschlag durch einen von Thiago Silva verursachten und von Paolo Guerrero verwandelten Handelfmeter ebenso wegsteckten wie die gelb-rote Karte gegen Gabriel Jesus (69.), den Schützen des 2:1 (45.+3).

Aber jogo bonito, das schöne Spiel, auf dem die Marketingkampagnen der Seleção fußten? Es war einmal. Dem Nationaltrainer Tite, immerhin, taugte der Titel als Diplom. Es war sein erstes Spiel im Maracanã, seine Feuertaufe als Coach der Nationalelf. "Ich bin heute Trainer der Seleção geworden. Wegen der Symbolträchtigkeit unseres Tempels", sagte Tite. Und doch hatte er sich in der Stunde des Sieges zurückgenommen: Es kostete einige Mühe, ihn unter den Spielern und dem 41-köpfigen Mannschaftsstab auszumachen, als die Trophäe überreicht worden war.

"Neymar ist außergewöhnlich", sagt Nationaltrainer Tite: "Aber Teamarbeit ist wichtig."

Dafür enterte ein anderer die Bühne: Brasiliens rechtsextremer Staatspräsident Jair Bolsonaro, der so dermaßen in Grund und Boden gepfiffen wurde, als er auf dem Bildschirm im Stadion erschien, dass man schon den Gehörsinn einer Fledermaus haben musste, um den vereinzelten Applaus wahrzunehmen, von dem die mit den oligarchischen Klassen des Landes verbandelten Zeitungen anderntags berichteten. Applaus gab es freilich von den Spielern, auch von den dunkelhäutigen unter ihnen, die Bolsonaro seine rassistischen Kommentare nicht mehr nachzutragen scheinen. Und die sich auch nicht daran stören wollten, dass einige von ihnen die Trophäe, die sie errungen hatten, nicht berührt hatten, als Bolsonaro bereits damit posierte.

Tite versuchte, so elegant wie möglich aus der Situation herauszukommen, als er darauf angesprochen wurde, und sprach von seiner Erziehung, seiner Ethik, seinem Fokus aufs Wesentliche, derweil er seine Hand auf einen Ball legte, der vor ihm auf dem Podium lag. Wer wissen wollte, was Tite meinte, musste sich nur die Szene in Erinnerung rufen, die sich zutrug, als dieser dem Staatschef nicht ausweichen konnte. Bolsonaro hatte die Siegermedaillen verteilt, war aber mit dem Versuch ins Leere gelaufen, Tite vor den Kameras zu herzen, um den Sieg der Seleção in Zeiten sinkender Popularität auszuschlachten.

Sogar Neymar, 27, war zurückhaltender als Bolsonaro, er hatte sich vor der Copa am Sprunggelenk verletzt und war beim Finale als Tribünengast dabei. Sie haben ihn nicht richtig vermisst, und doch brach Tite eine Lanze für den bislang teuersten Spieler der Welt, der Paris Saint-Germain so gern verlassen möchte. "Neymar ist unter den Top 3 (der Welt), außergewöhnlich. Aber Teamarbeit ist wichtig", sagte Tite und erinnerte daran, dass Portugal das Finale der EM 2016 in Frankreich ohne Cristiano Ronaldo gewann, Brasilien 1962 in Chile ohne Pelé Weltmeister wurde. "Wir haben noch Raum, uns zu entwickeln", sagte er mit Blick auf die Weltmeisterschaft 2022. Denn einen Weltpokal zu stemmen, ist das eigentliche Ziel der Brasilianer, seit 1950 schon - eine Copa América an historischer Stätte hin oder her.

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