2. Liga: TSV 1860 München:"Bei Sechzig zählen nur Emotionen"

Der scheidende Nachwuchsleiter Ernst Tanner über die Fehler, die 1860 mit seinen Talenten begeht - und die Gründe seines Abschieds.

S. Krass und M. Schäflein

Nachwuchskoordinator Ernst Tanner, 42, nimmt beim Regionalliga-Heimspiel der U23 an diesem Samstag (14 Uhr, Stadion an der Grünwalder Straße) Abschied vom TSV 1860. Seit 1994 arbeitete Tanner bei den Löwen. Er fing als Trainer der C-2-Junioren an, seit 2003 war er Chef des Nachwuchsleistungszentrums. Nun wechselt er in gleicher Funktion zu 1899 Hoffenheim.

2. Liga: TSV 1860 München: Der Zweitligist 1860 München gibt künftig weniger für die Jugendarbeit aus als bisher, sagt der scheidende Jugendleiter Ernst Tanner.

Der Zweitligist 1860 München gibt künftig weniger für die Jugendarbeit aus als bisher, sagt der scheidende Jugendleiter Ernst Tanner.

(Foto: Foto: Getty)

SZ: Diesen Samstag steht das "XXX-Tausend"-Spiel der U23 gegen Freiburg II an. Es ist schon eine Tradition geworden, einmal im Jahr viele Zuschauer ins Grünwalder Stadion zu locken. Was bedeutet das für den Verein?

Tanner: Für mich geht es um weit mehr als nur den Erhalt des Stadions, das natürlich zu 1860 gehört. Das ist eine Kultveranstaltung. Da können die Fans ihre Sehnsüchte ausdrücken.

SZ: Wie groß ist die Tränengefahr bei Ihrem Abschied?

Tanner: Ein paar Tränen werden wahrscheinlich nicht ausbleiben. Ich habe mit meiner Tätigkeit hier abgeschlossen und gehe eigentlich ganz entspannt in das letzte Heimspiel rein, aber auf jeden Fall wird das etwas für die Gänsehaut.

SZ: Sie haben das Chaos im Verein viele Jahre aus nächster Nähe mitbekommen. Findet man sich damit ab oder verzweifelt man immer noch daran?

Tanner: Wir haben in den letzten fünf, sechs Jahren nicht viel richtig gemacht, gerade im Führungsbereich. Das ist auf Dauer tödlich. Ich lese in einigen Gazetten: Mit Jungen steigen wir nicht auf. Das stimmt, aber wir haben halt auch keine gescheiten Alten. Richtig gute Spieler sind doch maximal Lauth und Bierofka, wenn er mal fit ist. Man darf Jugendarbeit nicht verteufeln, weil sie nicht den Aufstieg gebracht hat.

SZ: Können Sie etwas genauer werden? Was läuft falsch bei 1860?

Tanner: Mein großer Schmerz ist es, dass man den Übergangsbereich falsch fährt. Aus meiner Sicht verheizen wir Jugendliche, weil wir sie viel zu früh auf die Bühne stellen und dann nicht mehr anders behandeln als den gestandenen 25- oder 28-jährigen Profi, und das kann nicht gut gehen. Und dann wundert man sich, warum sie sich nicht weiterentwickeln, ständig verletzt sind oder keine konstante Leistung abrufen.

SZ: An wen denken Sie da?

Tanner: Das ist in der Verantwortung aller, die bisher da waren, Präsidenten, Geschäftsführer, aber auch Trainer. Der Ärmste war letztlich der Uwe Wolf, der versucht hat, diese Dinge voranzutreiben, aber null Rückendeckung hatte.

SZ: Was genau wollte er vorantreiben?

Tanner: Dass man sich eben am Übergang zum Profibereich noch viel besser mit den Jugendlichen auseinandersetzt. Das sind ja unsere Juwelen. Andere sehe ich im Moment nicht. Und die, die wir haben, verkaufen wir ständig. Dabei würde man auch einen höheren Marktwert schaffen, wenn man sie besser ausbildet. Oder sie länger in der U23 lässt - da wird Ausbildung betrieben. Ich bin der Meinung, dass junge Spieler auch bei den Profis mehr trainieren müssten, differenzierter und positionsspezifischer. Ich habe das Konzept ja auch mal vorgestellt.

SZ: Wem?

Tanner: Das kennt das Präsidium auch. Aber das ist ja wieder Schall und Rauch, das wollte man hier nicht haben.

SZ: Können Sie Beispiele nennen, bei wem etwas schief gelaufen ist?

Tanner: Klar. Björn Ziegenbein zum Beispiel. Das ist ja eine Farce, was da passiert ist, der ist total verheizt worden. Auch ein Christoph Burkhard, der am Anfang ordentlich gespielt hat. Aber jetzt ist er frustriert. Den kannst Du Dir nicht mehr anschauen, im Verhältnis zu dem, was er kann. Das aktuellste Beispiel: Peniel Mlapa aus der A-Jugend. Jetzt hat er ein einziges ordentliches Spiel in der U19 gemacht und ist bei den Profis. Das versteht bei uns keiner, weil der richtig schlecht war in der Rückrunde.

SZ: Wie passiert dieses "Verbrennen" eines jungen Spielers bei den Profis?

Tanner: Zum einen, indem er zu früh in der Öffentlichkeit steht. Zum anderen über die tägliche Trainingsarbeit. Wir haben oft die Erfahrung gemacht, dass wir Spieler aus dem Profibereich schlechter wieder zurückkriegen, als wir sie hingegeben haben. Es läuft dort alles in Richtung Wettbewerbsorientierung und weniger in die individuelle Fortentwicklung. Da wird eine völlig falsche Mentalität geschürt. Wenn die Jungs nicht mehr zur Schule gehen oder eine andere Ausbildung machen, haben die den ganzen Tag nichts zu tun. Dann stehen sie vielleicht um neun oder zehn auf, gehen brunchen. Dann trainieren sie eineinhalb Stunden. Dann sind die um halb sechs wieder weg vom Gelände. Dann noch ins Café, ein bisschen fernsehen oder sonst was. So geht das dahin, so entwickelt man keinen grundaggressiven Spieler. Dadurch wird nichts anderes produziert als Trägheit.

SZ: Christian Träsch hat 1860 im Jahr 2007 an den VfB Stuttgart abgeben - heute ist er Nationalspieler auf Asien-Reise. Was ist da schief gelaufen?

Tanner: Es sind manchmal andere Entscheidungen von oben getroffen worden, als man sich das gewünscht hätte. Im Falle von Träsch bin ich immer gefragt worden, was mir an dem gefällt. Dann habe ich gesagt: Der ist super-aggressiv, hat eine gute Technik, ist im Zweikampf saustark, spielt wenig foul - und hat sicher noch Schwächen im Spiel mit dem Ball. Daran hätte man arbeiten können. Aber damals wurden vor allem die Benders gesehen, die auf der Position geplant waren. Träsch war zwei Jahre weiter und ist aktuell der Bessere. Aber man hätte ihm eine Profiperspektive bieten müssen. Das ist so ähnlich mit Julian Baumgartlinger. Der ist ein guter Fußballer, aber dem traut man nichts zu.

"In Hoffenheim spüre ich eine brutale Wertschätzung für die Jugendarbeit"

SZ: Jetzt offenbar schon, er soll ein gutes Angebot vorgelegt bekommen haben.

Tanner: Zu spät. Und gut ist relativ. So einen darf man nie weggeben.

SZ: Auch Michael Schick hat unter Uwe Wolf den Sprung nach oben geschafft, jetzt geht er nach Augsburg.

Tanner: Dass Michael Schick so gut war in der Rückrunde, ist eine der größten Überraschungen. Es wissen alle, dass er Defizite im Defensivverhalten hat. Aber er hat eine exzellente Schusstechnik, die er bei Standards gut nutzen kann. Er ist ein Spieler, der immer eine Waffe hat. Solche Spieler muss man suchen. Ich würde einen wie ihn nie gehen lassen, weil ich die Qualität, die er hat, dann später teuer bezahlen muss.

SZ: Aber 1860 hat mit ihm wohl für die U23 geplant, wie ihm gesagt wurde.

Tanner: Aha. Wir bei der U23 haben eigentlich nicht mehr mit ihm geplant. Klar, dass er lieber dahin geht, wo er eine größere Rolle spielt.

SZ: Denken Sie da: Die haben wir über Jahre herangezogen, und ganz oben werden die Fehlentscheidungen getroffen?

Tanner: Ich denke mir meinen Teil, sagen wir es mal so. Ich kenne ja auch die neuen Strategien nicht.

SZ: Hat sich Sportdirektor Stevic nicht mit Ihnen zusammengesetzt? Man hätte doch erwarten können, dass er Ihnen seine Pläne erläutert.

Tanner: Ja, aber das ist nicht erfolgt. Bei 1860 zählen nur Emotionen, keine Strategien. Mit einer langfristigen Strategie kann man hier nichts erreichen. Dafür braucht man Ruhe. Der letzte Profitrainer, der ein richtiges strategisches Denken hatte, war Falko Götz, und der war total unbeliebt.

SZ: Ist das alles der Abschiedsgrund?

Tanner: Der Hauptgrund ist, dass wir konzeptionell nicht weiterkommen. Dass wir die Jugendlichen weit unter Wert verkaufen, dass wir die Früchte, die das Leistungszentrum trägt, nicht richtig gedeihen lassen, um entsprechend ernten zu können. Und jetzt ist die Jugend sowieso nicht mehr gewünscht. Es sollen ja lauter neue Spieler kommen.

SZ: Es hat auch mal geheißen, der Etat für den Jugendbereich solle gekürzt werden. Hat man das Ihnen auch gesagt?

Tanner: Schon, aber mir teilt man das immer mit, wenn es schon zu spät ist.

SZ: Andererseits hat Stevic auch mal angekündigt, der Jugendetat solle gesteigert werden. Und Geschäftsführer Stoffers hat bei der Abteilungsversammlung vor über 1000 Zuhörern versprochen, der Jugendetat werde nicht gekürzt.

Tanner: Ja, aber was da gesagt wird, ist Schall und Rauch.

SZ: Wie groß sind denn die Kürzungen für nächstes Jahr?

Tanner: 300.000 Euro weniger allein beim Gehalt in der U23 und U19. Vor ein paar Jahren hatten wir 1,8 Millionen, dann 1,5, vergangene Saison 1,3 und jetzt noch eine Million. Das geht nicht mehr. Dabei ist da alles drin, auch das ganze Funktionsteam der U23 und U19.

SZ: Wer übernimmt Ihren Posten?

Tanner: Das wird in zwei Stellen aufgeteilt. Den organisatorischen Part haben wir besetzt, den Namen kann man nur noch nicht sagen, weil der Vertrag noch nicht unterschrieben ist, obwohl er seit vier Wochen bei der Geschäftsführung liegt. Der sportliche Leiter steht noch aus. Aber da wird schon einer kommen.

SZ: Es wäre doch sinnvoll gewesen, schnell jemanden zu verpflichten, damit Sie den Neuen noch einarbeiten können.

Tanner: Das war ja mein Angebot. Eigentlich hätte der Neue ein bisschen Handlungsspielraum gebraucht, um seine Ideen einzubringen, die neuen Jugendmannschaften zusammenzustellen. So musste ich das noch machen. Ich kann dem nur sagen: Da sind die Verträge.

SZ: Machen Sie sich zum Abschied Sorgen um den TSV 1860?

Tanner: Um die Profis schon ein bisschen. Wenn die Entwicklung so weitergeht, wird irgendwann die Grundlage weg sein. Wenn man in die dritte Liga absteigen sollte - und die Tendenz zeigt ja eindeutig in diese Richtung -, dann mache ich mir schon Sorgen. Aber ich hoffe auf Ewald Lienen, dass der genug Rückgrat hat und Erfahrung in der Arbeit mit jungen Spielern.

SZ: Vereinsziel ist der Aufstieg 2010.

Tanner: Das geht so nicht. Das ist völlig an den Haaren herbeigezogen.

SZ: Aber es wird ja immer postuliert.

Tanner: Aber nicht von den Leuten, die wirklich in den Dingen bewandert sind. Schauen Sie sich mal das Spiel in Nürnberg an: Die waren eine richtig ausgebuffte Truppe. Davon sind wir Lichtjahre entfernt. Ich glaube, dass es bei Sechzig nur über einen mittelfristig ausgelegten konzeptionellen Weg geht.

SZ: So, wie Sie über den Verein sprechen, hat man das Gefühl, dass Sie selbst gern Sportdirektor geworden wären.

Tanner: Das geht nicht bei Sechzig. Sie können hier nicht von innen in so eine Rolle wachsen. Das habe ich erkannt.

SZ: Warum?

Tanner: Weil bei Sechzig eben nur die Emotionen zählen. Wenn ich Sportdirektor werden würde, heißt es: Billiglösung, Nachwuchsmann, keine Verbindungen, der kann das nicht. Da bist Du in der Schublade drin. Das wäre für Sechzig nicht gut und für mich auch nicht. Ich bin auch keiner, der in den Vordergrund will. Die U23 ist mein Steckenpferd, die große Politik sollen andere machen.

SZ: Aber Sie hätten gern im Profibereich jemanden gehabt, mit dem Sie gut hätten zusammenarbeiten können.

Tanner: Mein Vorschlag war, dass man einen gescheiten Sportdirektor holt, einen, der das Geschäft versteht, schon ein paar Jahre macht. Und ich hätte dem gern zugearbeitet im Übergangsbereich, dass man die Ausbildung der jungen Spieler verbessert. Aus meiner Sicht ist das der Königsweg, um mit den vorhandenen Mitteln überhaupt noch mal wieder an die Spitze dranzukommen.

SZ: Vielleicht hätten Sie sich mehr einbringen sollen in den Machtkämpfen.

Tanner: Das glaube ich nicht. Das Problem ist, dass die Politik bei Sechzig meistens die machen, die viel von Politik verstehen, aber umso weniger vom Sport. Was nutzt es, wenn ich mich einschalte als einer, der die Politik nicht kennt. Ich sehe das jetzt gelassen, für mich war wichtig, dass ich hier meinen Abschluss finde. Ich muss mich auch noch weiterentwickeln. Da habe ich in Hoffenheim eine sehr gute Lösung gefunden, mit Kollegen, mit denen man gut kommunizieren kann. Außerdem sind da die Hierarchien viel flacher als hier. Und ich spüre eine brutale Wertschätzung für die Jugendarbeit.

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