2. Liga: 1860 München:Die Perfektion des Zufalls

"Hier wächst etwas zusammen" - nach einem Trainingslager mit lauter Gewinnern muss der TSV 1860 München nur noch aufsteigen zum vollendeten Glück.

Gerald Kleffmann

Zehn Tage war Münchens Fußballzweitligist TSV 1860 zwecks Fortbildung im österreichischen St. Johann im Pongau. Über ein Dutzend Übungseinheiten leitete Trainer Ewald Lienen, 55, in dieser schweißtriefenden Zeit, dazu Dutzende Einzelgespräche, Vorträge und Analysesitzungen, drei Testspiele wurden siegreich bestritten, ein Spieler wurde verpflichtet (Florin Lovin), einer abgegeben (Fabian Johnson), zwei wurden getestet (einer heißt Messias), einmal ging's auf den Berg mit der Bahn, einmal feierte man mit den Fans in der Alm, die Betten im Fünfsternepalast "Oberforsthof" waren weich wie Wolken, das gesunde Essen schmeckte, die Sonne schien ständig, ach, überhaupt, was soll man sagen: Es war alles löwenfantastischstarkwienochnie. 57, 58, 59, Seeeechziig! Oder, in den prophetischen Worten des Löwen-Geschäftsführers Manfred Stoffers ausgedrückt: "Hier wächst etwas zusammen." Ein kleiner Rückblick auf jene Phase, die in die Vereinschronik als die Aufstiegsvorbereitungsphase eingehen soll.

2. Liga: 1860 München: Ewald Lienen ist keine Liebhaber koffeinhaltigen Kaffees und fettiger Mehlspeisen.

Ewald Lienen ist keine Liebhaber koffeinhaltigen Kaffees und fettiger Mehlspeisen.

(Foto: Foto: Getty)

Das filetierte Ziel

Kaum abgebogen von der A10 und angekommen in St. Johann, hinter Salzburg in einem Fototapetental gelegen, beginnt Lienen mit der Kopfkur. "Ich will alle auf das große Ziel einschwören", gibt der Trainer bekannt. Wie, verrät er auch: "Wir müssen uns viele kleine Ziele täglich setzen, sonst träumt man." Für den Nachmittag folgt gleich mal eine zielorientierte Gymnastikstunde, abends gefolgt von einer zielorientierten Entspannung. Lienen sagt: "Wir haben einen Superwellnessbereich, die Spieler können sich super erholen und regenerieren, auch mental. Ein Trainingslager soll ja auch Spaß machen." Komisch, dass man die Profis selten lachen sieht. Aber das wird sich ändern. Ist ja erst Tag 1.

Das Aufstiegstraining (I)

Lienens Training ist eine Wundertüte. Er schreit, lobt, schweigt, beobachtet, mal setzt er aus, dann spielt er mit, eintönig ist kein Tag. Einmal üben die Spieler das sogenannte Verschieben. Weil sie das ohne Ball machen, gleichzeitig aber einen imaginären Ball hin und her passen müssen, sieht die Übung skurril aus. Wie Schwanensee mit Fußballschuhen. Immerhin, es scheint eine für die Löwen prädestinierte Übung zu sein. "Ohne Ball unterlaufen uns keine Fehler", sagt ein Beobachter auf der in die Jahre gekommenen Tribüne des TSV McDonald's St. Johann und setzt einen oben drauf: "Falko Götz hätte ich für diese Übung verrissen. Bei Lienen steckt sicher etwas Höheres dahinter."

Lienen ist jetzt schon der große Gewinner, das darf, ja muss an dieser Stelle festgehalten werden. Ein Mann mit tausend spannenden Facetten, dabei sind längst nicht alle erforscht. Eine andere Übung ist ebenfalls Sechzig-spezifisch. Zwei Zweierteams spielen eine Art Fußballtennis. Ohne Netz, aber mit einmal aufhüpfen. Die Landezone ist nicht breit, weshalb es zu vielen Querschlägern und Aus-Bällen kommt. Was das soll? Wieder ein spitzer Kommentar von der Tribüne: "1860 übt die Perfektion des Zufalls. Die Spieler sollen lernen, mit zufälligen Anspielen klarzukommen." Da ist wohl jemand durch die vergangenen Spielzeiten arg traumatisiert worden. Dieser Nörgler auf der Tribüne sollte sich ein Beispiel an Charly nehmen. Charly ist ein Rentner und zählt zur Gattung des Löwen-Kiebitzes. "Ich bin aus Giesing hierher geradelt", sagt Charly, was wohl stimmt. Er trägt eine hautenge Radlerhose, während er akribisch das Löwen-spezifische Fußballtennis verfolgt.

Der Aufstiegskader

Das Gute aus Sicht des TSV ist: In der Mannschaft sind kaum noch Spieler, die ihren Beitrag zur Traumatisierung vieler Anhänger geleistet haben. Das minimiert die Gefahr, nochmal einen Fußball wie zuletzt sehen zu müssen. Sportchef Miki Stevic hat mit der Sichel ausgedünnt, zehn Profis gingen, weitere könnten folgen, etwa Antonio Di Salvo oder Mathieu Beda. Dafür kamen sieben neue, und aus der eigenen Jugend rückten Sturmhüne Peniel Mlapa, der feine Techniker Sandro Kaiser und Speedy Gonzales Tarik Camdal auf.

Das Gesicht des Teams ist damit ab sofort nicht mehr boarisch, sondern multikulti. Und zwar mehr multikulti als manche Bolztruppe im Englischen Garten. Verständlich, dass sich der Stadionsprecher beim letzten Testspiel des TSV gegen Iraklis Saloniki (2:0) vorab für falsch ausgesprochene Namen entschuldigt. Florin Lovin, 27, stieß übrigens - falls jemand nicht mitkam bei den zahlreichen Rekrutierungsvorgängen - als letzter Internationaler zum Kader, er ist der Quotenrumäne neben dem Quotengriechen (Charilaos Pappas), Quotentunesier (Radhouène Felhi), Quotenserben (Aleksandar Ignjovski), Quotenungarn (Gabor Kiraly) und Quotendeutschen (Alexander Ludwig).

Dazu passt: Mlapa hat Wurzeln in Togo, Camdal in der Türkei. Schade in diesem Zusammenhang, dass 1860 nicht den kongolesischen Stürmer Dyzaiss Lys Mouithys-Mickalad geholt hat, an dem der Verein angeblich interessiert war. Der hätte der Mannschaft auch gut zu Gesicht gestanden (dafür soll jetzt der Franzose Nicolas Fauvergue vom OSC Lille ausgeliehen werden). Aber auch so wächst prima etwas zusammen, was man daran merkt, dass sich Grüppchen bilden und zum Flanieren abends auf die Hotelterrasse herauskommen. Auffallend: Mate Ghvinianidze kann gut mit Antonio Rukavina, Beda mit Felhi, und Torben Hoffmann kann gut mit, klar, Torben Hoffmann. Stevic ist rundherum begeistert. Er frohlockt: "Mir bereiten alle eine große Freude."

Stark durch Erkenntnisse

Es soll nicht verschwiegen werden, dass es nicht nur rosige Ereignisse im Trainingslager gibt. So dringt etwa die Nachricht ins Salzburger Land, dass Daniel Bierofka wieder an der Bandscheibe operiert werden muss. 1860 unterliegt zudem in einem Testspiel dem polnischen Erstligisten Lech Posen 0:1, und das wunderbare Wiener Schnitzel im Oberforsthof, das für die Spieler aufgrund der strengen Lienen'schen Speisekarte leider tabu ist, wird von Kartoffeln flankiert, die einen klitzekleinen Tick zu hart sind. Aber es ist, wie Lienen sagt: "Wichtig ist, dass wir neue Erkenntnisse gewonnen haben." Zudem, rückblickend wirkt alles halb so wild. Bierofkas OP gelang inzwischen, er wird seine Karriere nicht vorzeitig beenden, wie manches Boulevardblatt voreilig orakelte. Mit Aberdeen und Saloniki putzte 1860 zwei europäische Gegner. Und die Kartoffeln? Waren tags darauf zart wie Seide (es waren sozusagen echte aufstiegsreife Kartoffeln).

Das Aufstiegstraining (II)

Am Sonntag wagt sich der Löwen-Tross auf den Gernkogel, einen knapp 1700 Meter hohen Berg direkt vor der Haustür. Um das Verletzungsrisiko zu minimieren, wird die Seilbahn als Beförderungsmittel gewählt. Der Ausflug endet, wie kann man es anders bezeichnen, als Erfolg auf der ganzen Linie, mit einer Miniausnahme höchstens. "Wir mussten dort oben koffeinhaltigen Kaffee und fettige Mehlspeisen zu uns nehmen", so der Originalton des Trainers nach der Rückkehr. Versöhnlich dafür seine zweite Erklärung: "Ich liebe diese Landschaft." Als Überschrift für den Bericht über den Ausflug auf den Berg wählt 1860 auf seiner Homepage die Formulierung: "Löwen proben den Aufstieg." Ein platt anmutender, aber in diesem Fall geradezu zwingender Kalauer. Schließlich müssen nur noch 34 Spiele ordentlich bestritten werden, dann ist das Glück perfekt.

Kopfarbeit

Bernhard Winkler, der ehemalige Stürmer des TSV, ist seit kurzem als Trainer mit an Bord. Eines seiner Steckenpferde nennt sich Life Kinetik. Bei diversen Geschicklichkeitsübungen, die wie Jonglieren aussehen, sollen Dysbalancen zwischen rechter und linker Gehirnhälfte ausgeglichen werden, mit der Folge, dass Stürmer zum Beispiel heranfliegende Bälle besser wahrnehmen können. Winkler bedauert, dass es Life Kinetic früher nicht gab - "dann wäre ich noch erfolgreicher gewesen". Schön, dass 1860 jetzt auch eine kleine Garantie für Erfolg hat.

Gewinner überall

Am Mittwochmorgen bricht 1860 nach München auf, am Donnerstag ist trainingsfrei. Leandro "Messias" dos Santos wird ab Freitag dann noch ein paar Tage mittrainieren, der Brasilianer spielt als Linksverteidiger vor. Lienen wird abschließend gefragt, wer die Gewinner des Trainingslagers seien und wer die Verlierer. Reporter runden mit diesem Thema gerne ihre Trainingslagerberichterstattung ab. Lienen, der Schelm, gibt die einzig zulässige Antwort: "Es gab nur Gewinner. Und der Gewinner überhaupt ist natürlich 1860."

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