Süddeutsche Zeitung

2. Fußball-Bundesliga:Andrade rettet 1860 München mit einem Traumtor

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Im mit rund 1300 Anhängern gefüllten Fanblock des TSV 1860 München wurde zuerst über einen Alten und einen Jungen debattiert, die beide längst weg sind. Kurz vor der Partie beim FC St. Pauli hatte sich nämlich Trainer Benno Möhlmann, 62, über Sechzig geäußert: "Ich hatte zum ersten Mal einen Verein, zu dem ich keine Bindung gefunden habe", sagte Möhlmann, wobei zu berücksichtigen ist, dass er ja schon sehr viele Vereine hatte.

Und dann meldete sich in der Stadionzeitung auch noch Richard Neudecker, 19, zu Wort, der im Sommer von 1860 zum FC St. Pauli gewechselt war. Er berichtete nicht nur, dass er als kleiner Junge ein FC-Bayern-Trikot getragen habe, sondern sagte auch: "Ich glaube, wenn du 1860 überstanden hast, dann kommen nicht mehr viele Überraschungen." Neudecker wirkt bei der Partie wegen einer Schambein-Entzündung nicht mit, sondern hätte wohl auch der für originelle PR bekannte FC St. Pauli das Interview nicht gedruckt.

Auf dem Rasen am Millerntor herrschte Chaos

Die Sechziger werden die Aussagen gelassen genommen haben, schließlich sehen sie sich ja mittlerweile als runderneuert an und haben die Chaostage zumindest in der Außendarstellung hinter sich gelassen, Investor Hasan Ismaik und Präsident Peter Cassalette zelebrieren demonstrative Eintracht. Auf dem Rasen am Millerntor allerdings herrschte Chaos - ein von Abwehrfehlern, großem Willen, vielen Fouls und Fehlentscheidungen geprägtes Spiel endete mit einem 2:2 (1:0).

Bis auf den linken Flügel, auf dem erwartungsgemäß Levent Aycicek anstelle des zuletzt formschwachen Daylon Claasen begann, setzte Runjaic auf dieselbe Startelf wie zuletzt beim 1:2 gegen Union Berlin. Und wie gegen Berlin bereits Fanol Perdedaj und Milos Degenek patzte erneut ein Mitglied der Vierer-Abwehrkette eklatant; diesmal war es nach einer Viertelstunde Maximilian Wittek, der den Ball von der linken Abwehrseite in die Mitte spielen wollte, dabei wegrutschte und St. Paulis Japaner Ryo Miyaichi in Szene setzte. Dessen Flanke klärte Jan Mauersberger zwar vor einem einschussbereiten Hamburger, aber direkt vor die Füße von Christopher Buchtmann, der zum 1:0 traf (16.).

Sechzig, in der Anfangsphase auf Kompaktheit bedacht, drehte nun auf und wollte den Rückstand schnell wettmachen. Aber Michael Liendl scheiterte auf Zuspiel von Sascha Mölders an St. Paulis Torwart Robin Himmelmann (18.), eine Reihe von Ecken und Freistößen brachte nichts ein und Lasse Sobiech klärte per Kopf vor Mölders (33.). Kurz vor der Pause flankte Wittek, der seinen Aussetzer sichtlich wiedergutmachen wollte, noch einmal von der linken Seite, doch Mölders schoss knapp am linken Pfosten vorbei - mit dem 0:1-Rückstand gingen die Löwen in die Halbzeitpause, nachdem sie die Partie spielerisch dominiert hatten.

Mölders sieht Gelb nach einem Ellbogeneinsatz

Kurz nach dem Seitenwechsel begann das Chaos - da hätte es Elfmeter für den TSV 1860 geben und Sobiech die rote Karte erhalten müssen. Der St.-Pauli-Kapitän hatte im Strafraum das Knie gegen Jan Mauersberger ausgefahren (51.), aber Schiedsrichter Robert Kampka (Mainz) hatte die Szene nicht gesehen. Die Partie wurde in der Folge hektisch und ruppig, Mölders sah Gelb nach einem Ellbogeneinsatz, St. Paulis Daniel Buballa wurde nach einem taktischen Foul gegen Matmour ebenfalls verwarnt, dann waren der Münchner Matmour und der Hamburger Vegar Hedenstad an der Reihe. Runjaic nahm einen Wechsel vor, nicht für den Angriff, sondern in der Defensive: Er brachte Kai Bülow als Innenverteidiger für Degenek (57.).

Und dann verteilte Kampka doch noch einen Elfmeter an die Löwen - diesmal gab es nach einem Zweikampf zwischen Bernd Nehrig und Matmour allerdings keinen Grund dazu. Zudem zeigte der Schiedsrichter zunächst dem falschen Hamburger Gelb. Liendl war das Chaos egal, er tat, als gebe es gar keine Aufregung, verzögerte die Ausführung, verlud Himmelmann und schob den Ball mit maximal vorstellbarer Souveränität flach ins rechte Eck (70.).

Doch nur sechs Minuten später ging St. Pauli erneut in Führung. Taktisches Foul Perdedaj, Gelb, Freistoß - Bülow kam zu spät gegen Ziereis, dessen Kopfballvorlage verwertete der vermeintliche Elfmeterverursacher Nehrig (76.). Und dann kam Victor Andrade: Der soeben eingewechselte 1860-Brasilianer drosch den Ball von der rechten Strafraumgrenze in den entfernten Winkel (77.) - ein Traumtor des Brasilianers, der sein Trikot auszog, was angesichts der Flut an gelben Karten an diesem Abend eigentlich auch schon egal war.

Anschließend holte er allerdings auch noch zu einem kleinen Schlag gegen den bereitwillig fallenden Buchtmann aus, doch die Pfeife bleib stumm - Andrades Vorstellung passte irgendwie zu diesem durchgedrehten Abend. Die vier Minuten Nachspielzeit überstand Sechzig dann auch noch irgendwie - und an Benno Möhlmann und Richard Neudecker dachte da im Fanblock längst keiner mehr.

Stattdessen machte nach dem Schlusspfiff Ewald Lienen, der Trainer des FC St. Pauli, der ja auch schon mal bei Sechzig gearbeitet hat, bei Sky auf sich aufmerksam: "Was bei 1860 passiert, ist für mich viel schlimmer als bei RB Leipzig", schimpfte er, "da wird irgendeine Schatulle geöffnet, plötzlich ist eine Riesenkohle da. Das ist der falsche Weg. Da hängt man an einem Tropf eines Investors - das hat mit kontinuierlicher Entwicklung nichts mehr zu tun." Da hatte die wilde Fahrt wohl einen rasend gemacht.

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