Bremen im Nordderby:Werders Mut zur Lücke

GER, 2. FBL, SV Werder Bremen vs FC St. Pauli / 30.10.2021, wohninvest Weserstadion, Bremen, GER, 2. FBL, SV Werder Bre

Neue Doppelspitze? Niclas Füllkrug und Marvin Ducksch bejubeln Werders Treffer gegen St. Pauli.

(Foto: nordphoto GmbH/Imago)

Stürmer Niclas Füllkrug hat wegen Verletzungen und internem Zoff eine schwierige Zeit hinter sich. Im Zweitliga-Spitzenspiel gegen St. Pauli kann er aber endlich wieder überzeugen.

Von Thomas Hürner, Bremen

Alle haben sie schon im Bremer Weserstadion vorgespielt: Maradona, Messi, Ronaldinho oder Ibrahimovic, die Ahnenreihe dieser Ballartisten ließe sich noch fortsetzen. Lange her. Am Samstagnachmittag, eine graue Wolkendecke hing über der Hansestadt, wehte dann aber zumindest ein kleiner Hauch dieser alten Europapokaltage durchs Stadion. Eine feine Szene war das, die ein Bremer Spieler da aufs Parkett zauberte: Annahme mit rechts, Schulterblick, dann ein Pässchen, als habe jemand eine Portion Zuckerguss drübergekippt - der Werder-Stürmer Marvin Ducksch hatte jetzt freie Bahn, er legte sich den Ball vorbei am Torwart und traf zur Bremer 1:0-Führung.

Es war ein Spielzug wie am Lineal gezogen, initiiert vom Passgeber Niclas Füllkrug, der als wuchtiger und rustikaler Mittelstürmer eigentlich eher nicht der Mann für Feinmotorik und genialische Eingebungen ist. Füllkrug, 28, ist aber auch so etwas wie der Seismograf des SV Werder, an ihm lässt sich immer ganz gut ablesen, wie es um den Traditionsklub gerade bestellt ist.

Nur: Trotz seiner ästhetisch wirklich anspruchsvollen Torvorbereitung war die Stimmung an der Weser nach dem Abpfiff des Zweitliga-Spitzenspiels gegen den FC St. Pauli mit "so lala" noch am treffendsten beschrieben. Der Hamburger Stadtteilklub kam kurz darauf durch Finn Ole Becker zum 1:1-Ausgleich (67.), was zugleich der Endstand war. Und Füllkrug? Stand auf dem Rasen, die Hände um die Hüften gelegt, und schüttelte den Kopf.

"Wir konnten mithalten", lautete das Fazit von Werder-Coach Markus Anfang

Was anfangen mit diesem Spiel? Einerseits hatte es ja durchaus Szenen gegeben, die das Publikum im ausverkauften Weserstadion begeistern konnten: Einige starke Kombinationen im Spiel nach vorn, ein über weite Strecken couragierter und aufmerksamer Auftritt in der Defensive - und das immerhin gegen St. Pauli, Tabellenführer und Mannschaft der Stunde im Unterhaus. "Wir konnten mithalten", lautete das Fazit von Werder-Coach Markus Anfang. Er klang zufrieden.

Doch so richtig vom Fleck kommen die Bremer eben auch nicht seit dem Abstieg in der vergangenen Saison: In der Tabelle ist Werder derzeit nur der Mittelschicht in der zweiten Liga zuzuordnen, die Schwankungsbreite der kollektiven wie auch der individuellen Leistungen ist enorm, ein klares Fundament im Team hat sich auch nicht herauskristallisiert. Und über allem wabern die Enttäuschungen, die sich in den vergangenen zwei, drei Jahren angesammelt haben.

Der Kader wurde im Sommer fast komplett runderneuert, aus der Startelf der vergangenen Saison sind nur wenige Routiniers übrig geblieben: Torwart Jiri Pavlenka zum Beispiel, der gegen St. Pauli erstmals in dieser Saison eine Nominierung für die Startelf erhielt, nachdem er Teile der Saisonvorbereitung verletzungsbedingt verpasst hatte und bis Samstag vom soliden Michael Zetterer vertreten worden war. Den verletzungsanfälligen Abwehrchef Ömer Toprak zwickt's derweil wieder an der Wade, wohingegen Spielmacher Leonardo Bittencourt seine Knieprobleme eigentlich gerade auskuriert hatte, gegen St. Pauli dann aber kurzfristig wegen eines Infekts passen musste. Und dann ist da eben noch Stürmer Füllkrug.

"So etwas wie der Königstransfer" sei Füllkrug, hatte der ehemalige Werder-Aufsichtratschef Marco Bode gesagt, als der Mittelstürmer vor zwei Jahren als Zugang präsentiert wurde. Große Worte, aber es galt auch ein großes Loch zu stopfen: In Max Kruse war den Bremern gerade ein absoluter Schlüsselspieler abhanden gekommen. Ersetzen sollte ihn unter anderem auch Füllkrug, für den Werder 6,5 Millionen Euro an Hannover 96 überwies. Es kam allerdings sofort Kritik auf am teuren Transfer, weil der Stürmer eine lange Leidensgeschichte mit seinem Knie hat: Kreuzbandriss, Knorpelschäden, die ganze Palette.

So setzte sich das auch bei Werder fort, Füllkrug war aufgrund der vielen Verletzungspausen nur eine Teilzeitkraft - aber immerhin eine verlässliche, wenn er mal ein paar Wochen am Stück fit war. Nur: Die Ausfälle von "Lücke", wie Füllkrug aufgrund einer dentalen Fehlstellung liebevoll genannt wird, hinterließen ein Vakuum im Bremer Gefüge, das vom Rest der Offensivspieler nie so richtig gefüllt werden konnte. Am Osterdeich wehte nur noch ein laues Lüftchen, wenn auf Angriff geschaltet wurde. Doch auch bei Füllkrug blieben Spuren von den häufigen Zwangspausen, körperlich, aber auch mental.

Füllkrug und Ducksch stürmten gegen St. Pauli erstmals gemeinsam von Beginn an

Nach dem Abstieg stand Füllkrug zum Verkauf, wie jeder im Bremer Team. Angebote blieben aber aus, auch das Vertrauen in seine physische Widerstandsfähigkeit hatte abgenommen an der Weser. In Marvin Ducksch wurde ein neuer "Königstransfer" für den Sturm verpflichtet, wieder für viel Geld von Hannover 96. Im System von Trainer Anfang hatte bislang nur einer von beiden Platz in der Startelf, die Wahl fiel meist auf den variableren und dynamischeren Ducksch.

Sehr zum Unmut Füllkrugs, der in dieser Saison vor allem mit Fehlschüssen und Formschwäche aufgefallen war: Nach einer 0:3-Niederlage in Darmstadt zoffte er sich in der Kabine heftig mit Clemens Fritz, dem Sportlichen Leiter bei Werder. Füllkrug wurde suspendiert, erst nach einer reumütigen Entschuldigung durfte er wieder am Mannschaftstraining teilnehmen. Und dann traf Füllkrug als Einwechselspieler in der Vorwoche prompt zum 2:2 gegen Sandhausen - ein Treffer in letzter Minute, ohne den die Stimmung an der Weser womöglich gekippt wäre.

Gegen St. Pauli durfte Füllkrug erstmals von Beginn an neben Ducksch stürmen, die Konkurrenten traten als formidables Duo auf. "Sie haben das gemeinsam super gemacht", lobte Werder-Coach Anfang, der eigentlich eine andere Arithmetik im Werder-Angriff erwartet hatte: Ducksch als Vorbereiter, Füllkrug als Vollstrecker. "Aber so", sagte Anfang, "ist mir das natürlich auch recht." Was er nicht erwähnte, aber womöglich dachte: Sein Mut zu "Lücke" hatte sich gelohnt am Samstag. Getan ist es damit bei den Bremern jedoch noch lange nicht.

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