In der 70. und in der 83. Minute präsentierte der Hamburger SV ein paar Argumente, warum es in dieser Saison endlich mit dem Aufstieg klappen könnte. In der 70. Minute machten sich die Offensivkönner Jean-Luc Dompé, Fabio Baldé und Immanuel Pherai an der Seitenlinie bereit, damit Emir Sahiti, Noah Katterbach und Adam Karabec ihren jeweils nicht unverdienten Feierabend antreten durften. In der 83. Minute folgte der nächste Schichtwechsel, Stürmer Ransford Königsdörffer kam für Davie Selke ins Spiel, Mittelfeldmann Ludovit Reis für Dennis Hadzikadunic. Auch Marco Richter wäre eine Option für eine letzte Schwungphase gewesen, doch der Zugang musste einen vollen Arbeitstag auf der Ersatzbank verbringen.
Fünf Wechsel ohne Qualitätsverlust sind in der zweiten Liga etwa so oft zu bestaunen wie Aufstiegspartys des HSV, also nie. Und die Hamburger können sich etwas darauf einbilden, dass sie noch umfassendere Austauschprogramme stemmen könnten, wenn es das Regelwerk erlauben würde.
Weniger schillernd dagegen: Trotz dieser Variationsmöglichkeiten hat es für die Hamburger am Samstag lediglich zu einem trüben 2:2 gegen den SC Paderborn gereicht. Kaum furchterregend liest sich überdies die Hamburger Zwischenbilanz mit drei Siegen aus sieben Spielen sowie einem Tabellenplatz, der den Traditionsklub als Verfolger und nicht als Verfolgter ausweist. „Nicht Fisch, nicht Fleisch“, lautete die allgemeine Lageeinschätzung des HSV-Trainers Steffen Baumgart, da habe man sich schon „ein bisschen mehr vorgestellt“. Baumgart hat im Sommer einen Kader zur Verfügung gestellt bekommen, der zwar weiterhin ein Zweitliga-Kader ist – in der Spitze, in der Tiefe und beim Spieleretat bewegt er sich aber auf dem Niveau eines ernstzunehmenden Aufstiegskandidaten.
Dass auch im siebten Unterhaus-Jahr nur die Rückkehr in die Erstklassigkeit der Anspruch sein kann, muss man Steffen Baumgart deshalb nicht extra sagen. Er erwähnt es selbst oft genug. Diese Klarheit passt immerhin besser nach Hamburg als die Rumdruckserei mancher Vorgänger.
Glatzel und Selke stehen zum ersten Mal gemeinsam in der Startelf – und beide treffen
Ohnehin muss aus dem Volkspark noch keine dieser unzähligen Krisenreportagen gesendet werden. Aus Sicht des HSV kann entlastend angeführt werden, dass er ein anspruchsvolles Auftaktprogramm zu absolvieren hatte, mit Spielen gegen ebenfalls ambitionierte Konkurrenten wie den 1. FC Köln, Hannover 96 oder Hertha BSC. Schuld mildernd ins Gewicht fallen außerdem klare Siege gegen Abstiegskandidaten, denn die vermeintlich Kleinen waren in den Vorjahren ein riesengroßes Hamburger Ärgernis gewesen. Der SC Paderborn, der Gegner von Samstag, bewegt sich zwischen diesen Welten – und wer die zweite Liga kennt, weiß, dass solche Teams besonders gefährlich sein können. Diese Teams heißen Fürth, Kiel, St. Pauli oder eben Paderborn und scheinen mit dem Aufstieg nichts zu tun zu haben. Bis sie auf einmal in der Tabelle oben stehen – und oft oben bleiben.
Dabei kann man dem Paderborner Trainer Lukas Kwasniok nur wünschen, dass er auch in der nächsten Saison wieder nach Hamburg reisen darf, egal, in welcher Liga. Tolles Stadion, tolle Kulisse, tolle Mannschaft – das alles zählte Kwasniok beinahe ehrfurchtsvoll auf, ehe er sogar noch den „tollsten Kuchen“ der zweiten Liga lobte. Baumgart nahm die Lobrede des Kollegen eher unbewegt zur Kenntnis, mutmaßlich, weil ihm wegen der indifferenten Mannschaftsleistung noch ein wenig der Magen grummelte. Der HSV benötigte ein halbes Stündchen, um ins Spiel zu finden, aber dann war vieles von dem zu sehen, wofür der Trainer Baumgart steht: enge Verteidigungsketten, viel Bewegung, eine Menge vertikale Läufe. Und die Haltung des Teams war aufrecht.
Das lag auch daran, dass Baumgart zum ersten Mal ein Doppelwumms-Sturmduo mit Robert Glatzel und Davie Selke von Beginn an aufbot, Verletzungen hatten einen Vollbetrieb bislang verhindert. Glatzel traf zum zwischenzeitlichen 1:1, Selke flugköpfelte das 2:2 herbei, und in der Nachspielzeit hatte Glatzel bereits den 3:2-Siegtreffer bejubelt – dieser wurde allerdings wegen eines zarten, aber entscheidenden Handeinsatzes aberkannt.
Die Hamburger können lasche Phasen nun besser kompensieren
Unübersehbar war, was die Hamburger in dieser Saison vorhaben und was sie noch ausbremst. Als mannsgroßer Bremsklotz erwies sich Torwart Matheo Raab, eigentlich die Nummer zwei hinter dem verletzten Daniel Heuer Fernandes, der bei beiden Gegentreffern eine unwirsche Figur abgab und den Eindruck aus der Vorwoche in Kaiserslautern verfestigte: Das Raab-Comeback des Jahres gab es jüngst bei RTL, nicht beim HSV. Die Idee von Baumgart ist dennoch zu erkennen, und sie hat viel mit dem Modewort „Intensität“ zu tun.
Als der Coach im vorigen Frühjahr den Job in Hamburg antrat, fand er einen Kader vor, der grundsätzlich funktionstüchtig war, aber zu laschen Phasen neigte. Der Hamburger Sportvorstand Stefan Kuntz hat dem Team deshalb eine Vielseitigkeit spendiert, mit der sich das auffangen lässt; sobald ein Spieler sein Tempo reduziert, kann Baumgart ihn jetzt einfach austauschen. Der launische Flügelmann Dompé etwa, der wohl beste Dribbler im Unterhaus, wurde so zur Teilzeitkraft umfunktioniert, die derzeit nur noch ein halbes Stündchen wirbeln darf – dann aber so flott und so unnachgiebig, dass es den Unterschied machen kann.
In der Theorie klingt das „toll“, wie Paderborns Kwasniok sagen würde. In der Tabelle steht der HSV jedoch hinter Fortuna Düsseldorf und dem 1. FC Magdeburg, den beiden nächsten Gegnern. Deren Trainer, der pragmatische Daniel Thioune und offensivwütige Christian Titz, haben sich auch mal Hamburger Wiederaufstieg versucht. Der Lauf der Geschichte lässt erahnen: Gut möglich, dass sie das mit ihren neuen Klubs nun hinbekommen.