1860-Sieg gegen Nürnberg:Pathos, Mythos und ein Abseitspfiff

17 05 2015 Fussball 2 Bundesliga 2014 2015 33 Spieltag TSV 1860 München 1 FC Nürnberg in der A; 1860

Rekordkulisse für die Zweitliga-Saison. 68 500 Zuschauer verfolgen das Spiel des TSV 1860 gegen den 1. Fc Nürnberg.

(Foto: imago/MIS)
  • Der TSV 1860 München hält dem Druck von 68 500 Zuschauern stand und gewinnt 2:1 gegen den 1. FC Nürnberg.
  • Entscheidend dabei war ein später Abseitspfiff von Schiedsrichter Jochen Drees. Die Nürnberger wittern eine Verschwörung. Dabei war es eine banale Fehlentscheidung.
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Aus dem Stadion von Martin Schneider

Guillermo Vallori lächelt. Sein Knie ist bandagiert, sein Vertrag läuft aus, und Guillermo Vallori strahlt vor sich hin. "Der Fuß geht in die eine Richtung, das Knie geht in die andere Richtung, keine Stabilität", sagt er zu der Szene kurz vor Schluss als er sich das Kreuzband riss und vom Feld getragen werden musste. Er merkt gar nicht, dass sein Gesichtsausdruck nicht zum Gesagten passt. "Für mich war das heute das beste Heimspiel. Es waren so viele Zuschauer da. Die zweite Halbzeit war wie ein Traum", sagt er zu diesem Spiel, das der TSV München von 1860 irgendwie 2:1 gewonnen hatte. Auch dank seines Tores zum 1:1 und einer starken Leistung des Spaniers.

Er werde kämpfen bis zum Umfallen, hatte er vor dem Spiel gesagt. Selten hat ein Spieler eine normalerweise dahergesagte Floskel so erfüllt. Vallori stand tatsächlich da wie ein Krieger, der für seinen Verein im Kampf verwundet wurde. Klingt zu pathetisch? Natürlich ist das völlig überhöht. Aber das war der Maßstab dieses Spiels. Oder wie es Geschäftsführer Markus Rejek ausdrückte: "Ohne pathetisch werden zu wollen, handelt es sich hier um eines der wichtigsten Spiele in der Geschichte des TSV 1860 München."

"Du bist angekotzt, enttäuscht", sagte Kapitän Schindler

Natürlich musste dieses Spiel mit einem der emotionalsten Momente in der Klubgeschichte enden. Zuschauer hatten schon Tränen in den Augen, die Spieler der Löwen standen bereits am Anstoßpunkt und wussten, dass sie nun noch drei oder vier Minuten haben würden, um den fast sicheren Absturz in die dritte Liga zu verhindern. "Du bist in dem Moment angekotzt, enttäuscht", sagte Kapitän Christopher Schindler später. Dann bildete sich auf einmal eine Traube an der Seitenlinie, die alles ändern sollte. Aber der Reihe nach.

Man vergisst tatsächlich manchmal, ganz unpathetisch gesprochen, wie groß der Giesinger Klub dann doch ist. Wenn alle Anhänger, die normalerweise aus Frust über den Vorstand, die Spieler, die Arena, das Management - im Prinzip aus Frust über alles - zu Hause bleiben, wieder den Weg zu ihrem Verein finden. Wenn dann noch der 1. FC Nürnberg der Gegner ist und mehrere Tausend Fans mitbringt, dann bildet sich eine Zweitliga-Kulisse von 68 500 Zuschauern. Das ist - natürlich auch bedingt durch die ungeliebte Arena - europaweit, vielleicht weltweit, kaum zu toppen.

Fröhling schickte seine Elf defensiv aufs Feld. Aus Angst vor dem Druck?

Dann fand dieses Spiel, das eventuell über den Absturz in die dritte Liga entscheiden sollte, auch noch am 17. Mai statt. Das Gründungsdatum der Löwen. Das sind übrigens (kein Witz) exakt 1860 Monate. Wenn im Fußball die große Geschichte ausgepackt wird, dann richtig. Und sollte das alles noch nicht genug Druck gewesen sein, erinnerten die Ultras vor dem Spiel noch per Choregrafie an das Europapokal-Finale gegen West Ham United. Die Botschaft: Wir waren mal ganz oben. Verhindert nun gefälligst, dass wir nach ganz unten sacken. In so einem Umfeld ein Fußballspiel abzuliefern, dass dann ja doch ganz banal aus Pässen, Schüssen und Zweikämpfen besteht, ist ja fast unmöglich.

TSV-Trainer Thorsten Fröhling schien ebenfalls befürchtet zu haben, dass dieser Druck eher hemmen könnte und ließ die jungen Spieler Marius Wolf, Korbinian Vollmann und Julian Weigl draußen. Außerdem schickte er seine Mannschaft vergleichsweise defensiv aufs Feld, weil er damit rechnete, dass Nürnberg die Initiative ergreifen würde. Weil der Club das nur bedingt einsah, entwickelte sich in der ersten Halbzeit ein auch für Zweitliga-Verhältnisse sehr unansehnliches Spiel, das eigentlich auf ein 0:0 herauslief, bis Vallori Nürnbergs Danny Blum zu zögerlich anging und Niklas Stark kurz vor der Pause das 1:0 köpfte. "Wir haben uns in der Halbzeit dann zusammengerissen", sagte Daniel Adlung später. Das stimmte. Vor allem er.

"Ich kann meine Gedanken nicht öffentlich machen"

Mit dem erfahrenen Antreiber, der Einwechslung von Wolf und einer deutlich offensiveren Spielweise - Was blieb 60 auch anderes übrig? - kamen tatsächlich die besten Minuten der Löwen in den vergangenen Spielen zustande. Zwei Standardtore durch Vallori (Kopfball) und Adlung (per Elfmeter) brachte in logischer Folge die nicht unverdiente Führung. Zu diesem Zeitpunkt griff der Pathos. Plötzlich waren die 60 000 Löwen-Fans im Stadion Hilfe und keine Last. "Man hat gemerkt, dass sie dann die Zuschauer mitnehmen konnten", sagte Niklas Stark später zu dieser Phase.

Doch das emotionale Jojo dieses Spiels war das Tor und dann Doch-nicht-Tor von Dave Bulthuis zum 2:2. Man konnte den Nürnbergern ja wirklich nicht vorwerfen, dieses Spiel, bei dem es für sie ja um eigentlich nichts mehr ging, nicht ernst zu nehmen. So waren auch die Reaktionen nach dem Spiel. "Vielleicht hat der Schiedsrichter auf das Spiel gewettet", sagte Bulthuis sogar. Und FCN-Trainer René Weiler meinte in kleiner Runde nach der Pressekonferenz nur: "Ich kann meine Gedanken dazu nicht öffentlich machen."

Drees hat vor zwei Jahren ähnlich gehandelt

Wenn man die Szene allerdings mal von vorne bis hinten auseinandernimmt, dann bleibt gar nicht so viel übrig von den Verschwörungstheorien, die man hinter diesen Aussagen vermuten könnte.

Der Reihe nach: Danny Blum bekommt im Mittelfeld den Ball und spielt einen guten Steilpass auf den gestarteten Bulthuis. Der eingewechselte Jakub Sylvestr kommt noch an den Ball, leitet ihn weiter und Bulthuis schießt ein. Die Fahne von Linienrichter Christian Gittelmann bleibt unten. Die Nürnberger jubeln, keiner protestiert. Jeder im Stadion bereitet sich auf den Anstoß vor, als Schiedsrichter Jochen Drees beginnt, mit seinem Assistenten zu diskutieren. Nürnbergs Trainer Weiler kommt dazu, auch TSV-Sportchef Gerhard Poschner. Dann zeigt Drees Richtung Nürnberg Tor und entscheidet auf Abseits.

Drees und sein Team hatten das vor zwei Jahren einmal so ähnlich gemacht. Am 34. Spieltag der Bundesliga nahm er ein Tor des Dortmunders Marcel Schmelzer zurück, weil Robert Lewandowski im Abseits stand. Hoffenheim blieb durch diese korrekte Entscheidung in der Bundesliga.

Ein Grund zum Jubeln für 1860? Noch lange nicht

Diesmal war es eine Fehlentscheidung, Drees gab das später auch in einem Fernsehinterview zu. Leider sagte er nicht, wie es dazu gekommen war. Allerdings kann es sehr gut sein, dass Linienrichter Gittelmann nicht sah, dass Sylvestr noch am Ball war. Hätte der eingewechselte Stürmer keinen Kontakt mit der Kugel gehabt, wäre es keinesfalls Abseits gewesen. Eventuell hielt der Linienrichter mit dem Unparteiischen Drees genau darüber Rücksprache. Drees sagte seinem Assistenten, dass Sylvestr den Ball noch berührt hatte. Gittelmann entschied mit dieser Information auf Abseits. In dem Fall war es zwar auch eine Fehlentscheidung, aber eine unglaublich knappe, wie sie immer mal wieder vorkommt.

Und nun? Steht 1860 München nach sechs Punkten aus zwei Spielen, in denen sie im Prinzip von 180 Minuten nur knapp 30 überzeugten, über dem Strich. Am letzten Spieltag müssen sie in Karlsruhe punkten, wenn sie nicht von Aue oder Frankfurt abhängig sein wollen. Fehlen werden dabei Gary Kagelmacher, Valdet Rama (beide 5. gelbe Karte) und Vallori, dem Poschner aberin der Pressemitteilung des Vereins zu seiner Verletzung eine Vertragsverlängerung in Aussicht stellte. "Uns muss klar sein, dass wir noch nichts erreicht haben. In Karlsruhe müssen wir noch 'ne Schippe drauflegen", sagte Christopher Schindler relativ ruhig. Ihm scheint klar zu sein, dass trotz 68 000 Zuschauern, trotz allem Pathos und trotz der drei Punkte der direkte Abstieg in die dritte Liga ein sehr reales Szenario ist.

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