Süddeutsche Zeitung

Stadionkiebitze:Der beste Stehplatz im Geisterspiel-Land

Fenster auf, Fußball gucken: Nirgendwo ist Geisterspiel-Gucken so scharf wie am Grünwalder Stadion - und sogar ohne Opernglas möglich.

Von Christoph Leischwitz

Es war wieder ein Wahnsinnsspiel der Sechziger, 3:2-Sieg nach 0:2-Rückstand, aber der Jubel fiel verhalten aus, nicht nur wegen der Maske. Nur niemanden aufschrecken mit aggressivem Fangehabe. Er stand ja schließlich nicht im Stadion, sondern Luftlinie rund 40 Meter weiter östlich, unterm Dach, in einer Privatwohnung. Dazwischen die Grünwalder Straße. Doch immerhin war Manfred jüngst live dabei beim Drittliga-Spitzenspiel des erstarkten TSV 1860 München gegen Tabellenführer MSV Duisburg. Live dabei? Ist das nicht verboten?

Die Zahl der Fans, die in Deutschland zurzeit in eines der hermetisch abgeriegelten Stadien blicken können, dürfte im niedrigen zweistelligen Bereich liegen. Zehn? Zwanzig? Dreißig? In Osnabrück soll es einen Anwohner geben, der die Heimspiele des VfL an der Bremer Brücke vom Balkon aus verfolgen kann. Doch das ist wenig, verglichen mit Münchens Grünwalder Straße: Der Block mit den Hausnummern 3, 5, 7, 9, 11 und vielleicht noch der 13 beherbergt derzeit die besten und begehrtesten Stehplätze in der heruntergedimmten Fußball-Republik. Nirgendwo sonst ist Geisterspiel-Gucken so scharf und sogar ohne Opernglas möglich. Näher dran sind nur die oft fotografierten Pappfiguren mit original Fan-Gesichtern, die sie in Mönchengladbach zu Tausenden ins Stadion gesetzt haben.

Vom Münchner Drittliga-Privileg machen sogar die Fans des FC Bayern Gebrauch. Einige der Roten waren am Mittwoch in den Fenstern zu entdecken, als die zweite Mannschaft in der dritten Liga gegen Preußen Münster 3:2 gewann.

Bestochen worden sei man von Fans und Freunden mit Bier

Das Kiebitzen an der Grünwalder Straßen hat eine lange Tradition. Eng wurde es an den Fenstern und in den Dachluken immer dann, wenn die Spiele ausverkauft waren. Bei den unzähligen Derbys von Blau (Löwen) gegen Rot (Bayern) im vorigen Jahrhundert, als beide Klubs dort noch gemeinsam in der Bundesliga spielten. Als Gerd Müller dort für die Roten traf, und die Blauen 1966 die Meisterschale in die Höhe stemmten. Als das Münchner Olympiastadion noch nicht stand, und noch niemand an eine Arena in Fröttmaning dachte.

Geradezu legendär ist das Ehepaar Blendinger, das mittlerweile verstorben ist. Hans wohnte schon in der Grünwalder Straße, als es das Stadion noch nicht gab. 1943 überlebten er und seine Frau Wally einen Fliegerangriff nur, weil sie gerade im Vereinsheim des TSV 1860 weilten. Nach dem Wiederaufbau des Hauses mit der Nummer 7 wurde die Wohnung der Blendingers kurzzeitig sogar zur Mannschaftskabine der Sechziger umfunktioniert, weil das Stadion gerade keine hatte. Später kamen bis zu 30 Besucher in diese Wohnung, die dann gut gefüllt war, bis auf den Dachboden. Einmal setzten sich die Freunde sogar rauf aufs Dach, um gut sehen zu können. "Meine Antenne ham's mir dabei verbogen, die Bazis", erzählte Blendinger vor knapp 30 Jahren in der SZ.

Viel erzählt hat dann auch noch Löwen-Fan Leonhard Seidl, ebenfalls Hausnummer 7, vierter Stock. Bestochen worden sei man von Fans und Freunden mit Bier- und Hendlmarken fürs Oktoberfest. Los ging der Spieltag mit einem Ruf unten von der Straße: "Die Blaue mit der Mannschaftsaufstellung" - dann ging ein Gast hinunter und kaufte für alle die Stadionzeitung. Drei Fenster hatte die Wohnung. Die Reihen waren angeordnet wie auf der Stehtribüne: Je zwei Leute standen direkt am Rahmen, dahinter zwei auf Schemeln, dahinter zwei auf einem Tisch, dahinter lugte noch ein großgewachsener Zwischengucker hervor. Machte offiziell 21 Zuschauer. Bezahlt wurde mit Kaffee, Wein oder Sekt. Vor ein paar Jahren hatten Fans dort ein Banner mit der Aufschrift "VIP Lounge Giesing" aufgehängt, während sie aus den Luken lugten.

Ein kleiner, weißer, gebastelter Geist

Aktuell zahlt Manfred, der seinen Nachnamen in dieser Geschichte lieber nicht in der Zeitung lesen will, der freundlichen Vermieterin des Fensterplatzes je zehn Euro, für sich und seinen Sohn. Er ist ein Allesfahrer, ein Fan also, der den Löwen überall hin folgt, selbst zum Testspiel tief im Bayerischen Wald in Bodenmais. Wie viele Fans bundesweit ist auch er im Grunde dagegen, dass vor leeren Rängen gespielt wird. "Schon ein bisserl schizophren" findet er das. Doch irgendwie dabei sein muss er, so nah es geht. Es gibt zurzeit angeblich sogar Fans, die reisen zu den Auswärtsspielen, setzen sich ein paar hundert Meter vom Stadion entfernt auf den Boden und starren auf den Liveticker im Handy.

Manfreds Sohn hatte zur Vorbereitung einen kleinen, weißen Geist gebastelt. Die Handy-Fotos aus dem Wohn-Fanblock sehen deshalb jetzt so aus: Geist auf der Glasscheibe, Blumen im Kübel, und dahinter - entfernt, aber gut sichtbar - die Spieler in Aktion. Näher dran sei man einst im Olympiastadion ja auch nicht gewesen, sagt Manfred, wegen der Laufbahn, die Publikum und Spielfeld trennte.

Glück mit der Perspektive hatten sie gegen Duisburg auch. Die meisten Treffer fielen aufs entfernte West-Tor. Das näher zum Fenster stehende Ost-Tor ist nicht zu sehen, es liegt im toten Winkel. Man sieht nur die Spieler - und muss deren Reaktion abwarten. Die jüngsten Schallschutz-Maßnahmen rund ums Grünwalder haben dafür gesorgt, dass viele Anwohner in unteren Stockwerken jetzt weniger hören, und die in den oberen weniger sehen.

Vier, fünf Fans in benachbarten Wohnungen habe er entdeckt beim Triumph gegen Duisburg. Gekrönt vom Siegtor von Prince Owusu in der 86. Minute - die Löwen träumen nun plötzlich von der zweiten Liga. Dass Manfred überhaupt dabei sein konnte, verdankt er einem Geisterspiel im Oktober 2017. Grund für den Fan-Ausschluss war die Randale in der Zweitliga-Relegation in der Allianz-Arena gegen Jahn Regensburg gewesen. Als Manfred damals an der Grünwalder Straße einen Platz unterm Dach suchte, verlangte ein Anwohner doch tatsächlich 75 Euro Eintritt pro Person, inflationärer als auf dem Schwarzmarkt. Entgegenkommender war eine Dreier-Mädels-WG im Stockwerk darunter, sie nahmen von jedem 20 Euro. Die WG hat sich inzwischen aufgelöst, aber die Handynummer einer Nachbarin wurde notiert: "Bei mir tät' des auch gehen", hatte sie damals gesagt. Und so sieht man sich jetzt wieder.

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SZ vom 06.06.2020/ebc
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