Süddeutsche Zeitung

180 Saisontore:Der Kanonier aus Nördlingen

Gerd Müller war schon als Jugendspieler unübertroffen: In der Saison 1962/63 trat er den Ball 180 Mal ins Netz.

Mike Szymanski

Der Sportplatz hinter der Turnhalle im schwäbischen Nördlingen ist ein trostloser Ort. Einige Jugendliche haben sich hierher zurückgezogen, weil sonst niemand vorbeikommt, der nicht einen Grund hat. Metallgeländer an den Längsseiten des Spielfelds sind spärlicher Ersatz für eine Tribüne. Und doch schreitet Martin Jeromin, 65, das Spielfeld so ehrfürchtig ab, als würde er sich im Münchner Olympiastadion bewegen. Allenfalls ihm gelingt es, diesen Fußballplatz in seinen Gedanken zu einem triumphalen Schauplatz werden zu lassen.

Der Grund: Jeromin war mal Abwehrspieler in der ersten Mannschaft des TSV Nördlingen - 1964 hat der Verein auf diesem Platz den Sprung von der zweiten Amateurliga in die Landesliga geschafft.

Das wäre nicht der Rede wert, hätte Jeromin nicht ein ums andere Mal auf diesem Feld den Ball in die Sturmformation des TSV Nördlingen gespielt. Dort lauerte ein gedrungener und etwas zu kräftig geratener 18-Jähriger, der die Lederkugel ein ums andere Mal ins Tor "müllerte" - wie später die Boulevardpresse begeistert schrieb. Aus den unmöglichsten Positionen beförderte dieser Spieler den Ball über die Torlinie des Gegners. Eigenwillig waren die Tore von Gerd Müller schon lange bevor er als "Bomber der Nation" ein unvergessliches Stück deutsche Fußballgeschichte schrieb.

Treffer im WM-Finale 1974

In Nördlingen, einer Stadt mit 20.000 Einwohnern, begann die Fußball-Laufbahn eines Mannes, der heute seinen 60.Geburtstag feiert: Gerd Müller. Als ehemaliger Mittelstürmer des FC Bayern München und der deutschen Nationalmannschaft legte der Schwabe eine der erfolgreichsten Karrieren hin, die der Weltfußball je gesehen hat: 68 Tore in 62 Länderspielen, 365 Bundesligatore in 427 Begegnungen. Sein Siegtreffer im WM-Finale 1974 gegen Holland dürfte wohl sein wichtigstes Tor gewesen sein - für Deutschland.

Den TSV Nördlingen schoss Müller 1964 im viertletzten Saisonspiel gegen den PSV Augsburg an die Tabellenspitze und damit zum Aufstieg - das war wohl das wichtigste Spiel für Martin Jeromin, der heute im Vorstand des Vereins arbeitet. Fünf Jahre spielte Jeromin damals schon in der ersten Mannschaft - und hoffte jedes Jahr auf den Aufstieg. "Technisch waren wir eine gute Mannschaft", erinnert er sich, "aber uns hat immer jemand gefehlt, der Tore schießt." Zu dieser Zeit hatte der Jugendspieler Müller schon die Senioren auf sich aufmerksam gemacht.

Sehnlichst erwartet

In der Jugendmannschaft schoss der kleine Müller, der als Neunjähriger zum TSV Nördlingen kam, in der Saison 62/63 insgesamt 180 von 204 Toren. Damals war er bereits Kapitän der bayerischen Jugendauswahl. Und die erste Mannschaft des Vereins wartete sehnlichst auf diesen Spieler, der aus einfachen Verhältnissen stammte. Müller enttäuschte seine Mitspieler nicht.

Die gegnerischen Mannschaften boten bald "Sonderbewacher" für den "gefährlichen Mittelstürmer" der Nördlinger auf, wie man in lokalen Zeitungsberichten nachlesen kann. Aber auch die konnten Müllers Tordrang nicht stoppen. "Wo der Ball auch hinkam, Müller war dran. Das war unglaublich", erzählt Jeromin. "Der hat den Ball geliebt." Bald kamen bis zu 3000 Zuschauer zu den Spielen der Amateure, berichtet Jeromin.

Sicher, sagt Jeromin heute, sie seien ein Team gewesen, aber niemand habe sich was vorgemacht: Alle standen im Schatten von Gerd Müller. "Der war für Höheres geschaffen", berichtet Jeromin. Müller spielte auch nur die eine Saison in der ersten Mannschaft des TSV - dann warb ihn Bayern München ab. Für den Verein war das ein herber Verlust. In den folgenden Jahren hielt sich das Team gerade so in der Liga und stiegt dann wieder ab.

Bundesliga? Nur noch im Basketball

Heute hat Nördlingen einen modernen Sportpark am Rande der Stadt. Aber wenn am kommenden Wochenende der TSV Nördlingen gegen den FC Affing spielt, werden vielleicht 200 Besucher kommen. "Traurig" - findet das Jeromin. Die Nördlinger gehen heute lieber zum Basketball - die Damen- und Herren-Mannschaften spielen in der zweiten Bundesliga.

Gerd Müller, heute Coach der Bayern-Amateure, lässt sich nur noch selten in Nördlingen blicken. Dabei bemüht sich die Stadt, die Erinnerung an ihn hochzuhalten. An seinem früheren Wohnhaus in der Altstadt etwa erinnert eine Tafel an den "weltberühmten Fußballnationalspieler, genannt der Bomber der Nation". Ginge es nach Jeromin, würde er das Stadion im Sportpark nach Gerd Müller benennen - aber das ist noch Zukunftsmusik.

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Quelle:
SZ vom 3.11.2005
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