Süddeutsche Zeitung

Vergangenheit des 1. FC Nürnberg:15 Kartons voller Schicksale

Lange galten sie als verschollen, dann tauchten die Mitgliederkarteien des 1. FC Nürnberg aus der Nazizeit in einem Keller auf. Sie leuchten ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte aus.

Von Thomas Gröbner

Manchmal muss erst der Hausmeister kommen, um einen Blick zu werfen in die dunklen Ecken der Vergangenheit. Für das gute Dutzend Kartons aus Pappe hat sich lange niemand interessiert, sie verstaubten in einem Keller auf dem Vereinsgelände des 1. FC Nürnberg am Valznerweiher. 12 000 Mitgliedskarteien aus den Jahren 1928 bis 1955 lagen darin, seit Jahrzehnten galten sie als verschollen - bis der Hausmeister im November darüber stolperte. Der Fund trieb dem Club-Historiker Bernd Siegler die Tränen in die Augen. Und er leuchtet eines der dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte aus.

Es war dieser Stempel, der Siegler auf die Spur brachte. 30. April 1933, ein Datum in der Zeile "Austritt" in den Karteikarten. Zack. Immer wieder, bei 143 Mitgliedern des 1. FC Nürnberg, die meisten davon Juden, wie Club-Historiker Siegler recherchiert hat. Er ist Fan, Autor und Kurator des Club-Museums. "Mir geht es darum, der Geschichte ein Gesicht zu geben", sagt er.

In mühseliger Detektivarbeit wühlt er sich nun durch die Archive, um die Biografien jener Menschen zu rekonstruieren. Manche dieser Lebenswege enden an Orten mit grausigem Klang: Auschwitz, Riga-Jungfernhof, Majdanek, Theresienstadt, Stutthof, Ghetto Izbica. Die Namen von Konzentrations- und Vernichtungslagern.

Andere erzählen Geschichten von Flucht und Vertreibung, wie die vom Kaufmann Franz Anton Salomon, der vieles zurücklassen musste, aber den Brief mitnahm bis nach New York, mit dem man ihn beim FCN davongejagt hatte. "Wertes Mitglied", so zynisch begannen die Schreiben, sie endeten "mit sportlicher Hochachtung", dazwischen lag die Botschaft: Weg mit dir.

Salomons Odyssee führte ihn durch Internierungslager in Frankreich über Trinidad bis nach New York - und trotzdem drückte er den Wisch des Clubs an sich. "Das finde ich bemerkenswert", sagt Siegler. Und das sagt er oft, wenn man mit ihm am Telefon über den Fund spricht.

Kaum ein deutscher Profi-Fußballverein hat noch so detaillierte Aufzeichnungen darüber, wie er während der NS-Zeit mit seinen jüdischen Mitgliedern umgegangen ist. Auch deshalb ist die Kartei so aufschlussreich: Weil sie zeigt, wie schnell und gründlich der organisierte Sport jüdische Mitglieder aus seinen Reihen ausschloss - und sich den neuen Machthabern andiente.

"Die Sportabteilungen haben sich gegenseitig überboten und gebuhlt um die Gunst der neuen Herrschenden", sagt Siegler. Mit welcher Entschlossenheit die Vereine dabei vorgingen, zeigt ein Gipfeltreffen der damals erfolgreichsten Klubs, zur "Klärung der Judenfrage", wie es nur dürftig verschleiert hieß. Schon drei Monate, bevor der Deutschen Fußball-Bund (DFB) die Entfernung jüdischer Mitglieder aus seinen Fußballvereinen beschloss, traf sich die damalige Crème des Fußballs in Stuttgart. 14 Vereine, neben den Nürnbergern auch der FC Bayern München, der TSV 1860 München, die SpVgg Fürth, Eintracht Frankfurt, der 1. FC Kaiserslautern und die Stuttgarter Kickers, und unterschrieben eine Resolution, um den Ausschluss der jüdischen Mitglieder abzusprechen. Einstimmig fällt das Votum dazu am 27. April in der Mitgliedsversammlung des Clubs aus, einen Tag später gingen in Nürnberg Briefe an die nun Verfemten. Dann drückte man den Stempel ins Stempelkissen. Austritt zum 30. April 1933. Man war schnell und gründlich.

Der Club war in den Zwanzigern und Dreißigern die erste Adresse im deutschen Fußball. Und es schien, als wollte man vorne mitspielen, wenn es darum ging, die unwürdigen antisemitischen Regeln umzusetzen. Die meisten Ausgeschlossenen waren in der Tennisabteilung. Wie giftig das Klima in der Stadt war, lässt sich aus den Hassschriften des Nürnberger Hetzblatts Der Stürmer ablesen: "Club, jag deine Tennisjuden zum Teufel", ätzte das Wochenblatt. Für den prominenten jüdischen Fußballtrainer Jenö Konrad forderte das Blatt ein Gratisticket nach Jerusalem, es triumphierte, als der Trainer aus Nürnberg floh.

Heute spielen sie in Nürnberg den Jenö-Konrad-Cup aus, das Nürnberger Staatstheater inszenierte ein Stück über den Club und seinen Trainer, die Ultras zogen eine große Choreografie für den vertriebenen Trainer auf. Sie spüren hier eine besondere Verantwortung, sorgsam ihre Geschichte herauszuarbeiten.

Denn kaum eine Stadt in diesem Land ist so eng verknüpft mit dem Nationalsozialismus wie Nürnberg. Das Stadion liegt neben dem Gelände des Reichsparteitags, und wenn die Fußballfans zu Heimspielen marschieren, ziehen sie an den Tribünen vorbei, von denen herab Adolf Hitler seine Paraden abnahm. Die antisemitischen "Nürnberger Gesetze" bereiteten den Boden für die Verfolgung der Juden, die im Holocaust endete.

Aber das Erinnern, das setzte erst spät ein, und lange blieb vieles, wie es war. Den Rauswurf-Brief an Salomon und wohl viele andere hatte Karl Müller unterschrieben, der dann von 1935 bis 1945 Präsident war beim Club und NSDAP-Mitglied. Und nach dem Krieg noch einmal, von 1963 bis 1964 auf den Posten gelangte - "als wäre nichts geschehen", sagt Siegler. "Da hat niemand nach der Vergangenheit gefragt, obwohl es viele hätten wissen müssen."

Wer war Täter, wer Opfer? So genau wollte das lange kaum einer wissen. Der Fußball hat sich schwer getan mit der Aufarbeitung, erst seit den 2000er-Jahren begann auch beim Deutschen Fußball-Bund eine Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, der Verband beauftragte den Historiker Nils Havemann damit, die unrühmliche eigene Rolle im Nationalsozialismus aufzurollen.

Beim FC Bayern waren es die Ultra-Anhänger, die den vergessenen jüdischen Präsidenten Kurt Landauer mit einer Choreografie zurückholten ins Bewusstsein des Rekordmeisters, seitdem rekonstruierte Archivar Andreas Wittner jüdische Biografien beim FC Bayern. Andere gingen weniger sorgsam mit der Vergangenheit um: Bei der Renovierung des Betzenbergs ist die Mitgliederkartei des 1. FC Kaiserslautern einfach im Sperrmüll gelandet, empört sich Siegler, der diese Geschichtsvergessenheit bemerkenswert findet.

Geschehenes lässt sich nicht ungeschehen machen, das wissen sie auch beim 1. FC Nürnberg. Trotzdem planen sie beim Club, den Ausschluss der jüdischen Mitglieder zu widerrufen bei der nächsten Mitgliederversammlung.

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