Auch heute noch, mehr als dreißig Jahre später, erinnert sich Günther Koch ziemlich gut an den Moment, in dem ihm klar wurde, dass es um ihn geschehen war. Nachdem der 1. FC Nürnberg am letzten Spieltag der Saison 1993/94 mit 1:4 bei Borussia Dortmund verloren hatte und den Abstieg aus der Bundesliga verkraften musste, saß Koch auf dem Rückweg im Flugzeug und dachte sich: Wenn die Maschine jetzt abstürzt, ist es eben so. Es war der Augenblick, in dem der Reporter realisierte: Er ist Club-Fan.
Jetzt sitzt Koch, 83, im Vereinsmuseum des FCN, in dem er Führungen für Besucher anbietet, und spricht über den nervenzersägenden Abstieg 1999, den Zauber von Vereinslegende Max Morlock und den Ausspruch, der Club sei ein Depp. Anlässlich des 125. Geburtstags des Vereins erklärt der frühere Lehrer auch seine wechselhafte Beziehung zu den Ultras, weil sie ein Sinnbild für die bewegte Nürnberger Geschichte ist – mit neun deutschen Meisterschaften und ebenso vielen Abstiegen aus der ersten Bundesliga.
SZ: Herr Koch, am Sonntag wird der 1. FC Nürnberg 125 Jahre alt. Was wünschen Sie dem Club zum Geburtstag?
Günther Koch: (überlegt lange) Dass er in einer deutschlandweiten Liga spielt, zu der nur eingetragene und unabhängige Vereine zugelassen werden. Egal, ob sie Pasing oder Wacker München heißen. Hauptsache, die Vereine arbeiten ohne Finanziers und die Mitglieder entscheiden alles.
Das ist vollkommen unrealistisch.
Ja, aber das wünsche ich ihm. Und ansonsten wünsche ich ihm, dass er etwas genügsamer wird. Er kann in diesem unsäglichen Kommerz sowieso nie wieder Meister werden, deshalb sollte er glücklich sein, wenn er in der zweiten Liga oben mitspielt und ab und zu mal in der Bundesliga vorbeischaut.
Ist das in einem Umfeld wie dem in Nürnberg zu vermitteln?
Natürlich! Alles ist zu vermitteln. Ich bin Pädagoge. Und so schaut die Realität nun mal aus. Bei meinen Museumsführungen sage ich oft: Als der Fußball noch sauber war, war der Club unerreicht. Als der Fußball dreckig wurde, machte der Club nicht mehr mit. Zwar nicht absichtlich, aber seitdem hat er keine Chance mehr. Alles wird gekauft in diesem Geschäft. Alles! Und dann, siehe die Löwen, erreichen sie doch nichts. Dann spiele ich doch lieber in der zweiten Liga. Ich wünsche dem Club also, dass er aufrecht ist. Zweite Liga, das reicht! Hoffentlich steigt der Club nie wieder ab, vielleicht steigt er sogar bald mal wieder auf. Der Verein sollte aber nicht von einer Welt träumen, die es so nicht mehr gibt. Der Profifußball ist schon lange kein reiner Sport mehr, sondern ein gnadenloses Geschäft mit mitunter merkwürdigen Ergebnissen geworden.
Wie meinen Sie das?
Das habe ich schon 1999 in einem Nebensatz angedeutet.
Bei dem Drama, als der Club mit drei Punkten und fünf Toren Vorsprung in den letzten Spieltag ging und trotzdem noch abstieg?
Ja. Nürnberg hat 1:2 gegen Freiburg verloren und Frankfurt parallel mit drei plötzlichen Toren in den letzten neun Minuten mit 5:1 gegen Kaiserslautern gewonnen. Bei meiner Reportage habe ich gesagt: „Wir melden uns vom Abgrund. Hier ahnt noch niemand, mit welch sensationellem Ergebnis die Mannschaft von Otto Rehhagel in Frankfurt aufwartet.“
Wollen Sie damit andeuten, dass damals nicht alles mit rechten Dingen zuging? Frankfurt war durch das 5:1 gerettet, Nürnberg musste in die zweite Liga gehen.
Ich will nur auf die Fakten hinweisen. Auch damals ging es schon ums Geschäft. Und dieser Verein, der da so hoch gewonnen hat, hat einen seiner wichtigsten Spieler nach der Saison für null Mark an den anderen Verein transferiert – und ein paar Monate später kam er für ein paar Millionen Mark wieder zurück.
Sie meinen Thomas Sobotzik, der 1998/99 sieben Tore und sechs Vorlagen zum Frankfurter Klassenerhalt beigetragen hat und im Sommer 1999 nach Kaiserslautern gegangen ist. Er hat auch bei dem 5:1 getroffen.
Drei Tage vor dem Spiel bin ich nach dem Champions-League-Finale zwischen Bayern und Manchester United von Barcelona zurückgeflogen und dachte mir: „Der Club kann nicht mehr absteigen – eigentlich!“ Dann habe ich es aber trotzdem mal durchgerechnet und mir überlegt, was ich sage, wenn ich glaube, dass da etwas nicht stimmt. Ich habe mir eine Formulierung zurechtgelegt, für die man mich nicht vor Gericht bringen kann.
„Das sensationelle Ergebnis, mit dem die Mannschaft von Trainer Otto Rehhagel aufwartet.“ Rehhagel war aber Kaiserslautern-, nicht Frankfurt-Trainer.
Später habe ich ihn mal getroffen. Er hat mir nicht die Hand gegeben.
Wenn Sie an die 125 Jahre Club denken, welche Meilensteine kommen Ihnen da als Erstes in den Sinn?
Der Pokalsieg 2007, als ich achtmal hintereinander ins Mikrofon gebrüllt habe: „Der Club! Der Club! Der Club!“ Oder das 4:0 am 25. November 1989 gegen Bayern. Da bin ich über die Bande gestiegen und habe jeden interviewt: „Herr Hoeneß, was sagen Sie?“ Dann habe ich selbst in mein Mikrofon gesagt: „Der sagt nix.“ (lacht) Mir kommt auch die Spielerrevolte 1984 in den Sinn, als sechs Spieler den Aufstand gegen Trainer Heinz Höher geprobt haben, entlassen wurden – und der Club am Ende der Saison mit einer ganz jungen Mannschaft aufstieg. Oder das Phantom-Tor von Thomas Helmer für Bayern München gegen Nürnberg, das war ein paar Wochen vor dem Abstieg 1994. Zu der Zeit bin ich auch Club-Fan geworden, obwohl ich das gar nicht wollte. Ich wusste, dass ich als Reporter kein Fan sein durfte, aber als wir 1994 in Dortmund abgestiegen sind, wusste ich nicht mehr weiter. Auf dem Rückweg saß ich in der Maschine, mir war alles egal – auch wenn auf dem Heimflug etwas passiert wäre. Da habe ich gemerkt: „Du Depp, du bist Club-Fan. Du musst da eintreten und trotzdem objektiv bleiben.“ Ein paar Tage später bin ich Mitglied geworden. Auch heute kann ich in der Nacht vor dem Club-Spiel nicht gut schlafen – und danach auch nicht. Das nimmt mich immer noch mit, mich Depp.
Es heißt, auch der Club sei ein Depp. Dieser Ausspruch gehört mittlerweile fast schon zur Vereinssatzung. Inwiefern ist der Club ein Depp, Herr Koch?
„Depp“ ist kein Schimpfwort, sondern ein Ausdruck von Liebe. Wenn ich jemanden beleidigen will, sage ich nicht „Depp“. Da gibt es andere Wörter. Für die Evangelische Hochschule betreue ich ein paar Inder, und zu einem sage ich auch immer „Du Depp“, weil er immer noch Fehler im Deutschen macht – und dann strahlt er.

Spricht aus dem Wort „Depp“ auch, dass man den Club eigentlich am liebsten in den Arm nehmen und trösten würde, wenn es ihm mal wieder schlecht geht?
(schreit) Ja! Genau! Mein Depperle – so ist das gemeint. Wer es gut mit sich meint, sagt auch zu sich selbst: „Du Depp.“ So mache ich das. Warum soll ich es dann nicht auch zum Club sagen? Dieser Verein spiegelt ja bloß die Realität wider. Er ist wie das Leben.
Es geht auf und ab.
So ist es. Dem Club verdankt man auch unerwartete Freuden. Bayern-Fan zu sein, ist doch langweilig. Aber der Club ist alles – nur nicht langweilig. Man kann über keinen anderen Verein so viel schimpfen wie über den Club. Und es ist schön, dass man über ihn schimpfen kann. Das Schimpfen gehört hier einfach dazu, weil es das Markenzeichen dieses Vereins ist, ein Depp zu sein.
Zieht der FCN das Unglück an? Mit dem Vorsprung von 1999 kann man eigentlich gar nicht mehr absteigen – ebenso wenig als Pokalsieger. Aber Nürnberg hat beides fertiggebracht.
(überlegt lange) Nein, er zieht das Unglück nicht an – und das sage ich als überzeugter Christ. Über 1999 haben wir schon gesprochen, und beim Abstieg 2008 haben sie hier einfach versagt. Da waren Deppen am Werk, weil sie Hans Meyer im Februar entlassen haben – und das ist in dem Fall jetzt doch eine Beleidigung.
Warum musste Meyer gehen?
Er ist den Verantwortlichen zu groß geworden. Die Fans waren kurz davor, ihm ein Denkmal zu bauen, dann wurde er abgesägt, und der Club ist abgestiegen. Mit Meyer wäre das nie passiert. Nie! Aber eine Mehrheit der Neider will sich in Nürnberg wohl sonnen, weil sie sowohl im Aufsichtsrat als auch edel beköstigt auf der Ehrentribüne sitzt.
Herr Koch, welche Bedeutung hat Max Morlock für den Club?
Er ist das Aushängeschild. Er ist das Symbol. Er ist das Ehrendenkmal, das kein Denkmal braucht. Ich gehöre zu denen, die ihn persönlich kennenlernen durften, und ich kann sagen: Ich war jedes Mal überwältigt.
Warum?
Weil er, was viele Leute spielen, nicht gespielt hat. Er war die lebende Bescheidenheit. Als Lehrer hatte ich mit allen möglichen Menschen zu tun. Ich brauche nur zwei oder drei Blicke, um einen Menschen einzuordnen. Und bei Max Morlock war ich jedes Mal beschämt, wie bescheiden und dankbar er war, wenn ich ihn interviewt habe. An eine Geschichte kann ich mich noch besonders gut erinnern …
Erzählen Sie.
Unter den Nürnberger Mittelschulen wird jedes Jahr der Max-Morlock-Pokal ausgespielt. Einmal haben meine Schüler im Endspiel verloren und waren untröstlich. Dann kam Max Morlock zu mir und meinte: „Ich fahr sie heim!“ Das müssen Sie sich mal vorstellen: Der große Max Morlock hat meine Schüler nach Hause gebracht! Das werde ich nie vergessen. Ich kenne auch viele seiner damaligen Mitspieler. Die haben alle gesagt: Er war der Größte. Max Morlock ist fast ein Heiliger. Entschuldigen Sie bitte diese pathetische Ausdrucksweise, aber da ist er nah dran. Man kann Max Morlock gar nicht genug würdigen. Man muss ihn erlebt haben – und dann sollte man ruhig sein.
Wer darf nicht fehlen in einer Elf, die die 125 Jahre des 1. FC Nürnberg umspannen?
Stuhlfauth, Wabra, Köpke, Billmann, Morlock, Walitza, Wild, Eckstein, Reuter, Dittwar, Peter Stocker, Jogi Lieberwirth, Marek Mintal, Ilkay Gündogan, Sergio Zarate, Frank Wiblishauser, Christian Wück … Ich müsste eigentlich noch fünf Minuten weiterreden. Und bei den Trainern: Höher, Hans Meyer, Gerland, Entenmann. Das sind alles Clubberer! Da geht mir das Herz auf. Die Liste ist endlos, und es geht immer weiter. Ohne Uzun und Brown gäbe es den Club heute wahrscheinlich gar nicht mehr.
Der eine oder andere, den Sie genannt haben, war beim letzten Heimspiel gegen Paderborn Teil einer Choreografie. Sie selbst auch. Wie ist Ihr Verhältnis zu den Ultras?
Es ist wie zu allen Menschen: offen, ehrlich, gut und kritisch. Ich weiß, was Ultras für den Fußball tun. Ohne sie wäre der Fußball nur korrupt und kaputt. Und wenn sie dagegen aufstehen, unterstütze ich sie. Dann bin ich mindestens genauso sehr Ultra wie die, die in der Nordkurve stehen. Wenn sie aber überziehen, kritisiere ich sie auch, zum Beispiel für Pyro und Gewalt.
2014 wollten die Ultras Sie aus dem Aufsichtsrat drängen. Was ist seitdem passiert, dass sie Sie jetzt in einer Choreografie einbinden?
Wahrscheinlich haben sich die Ultras bei der Vorbereitung auf das Jubiläum mit meinen Reportagen beschäftigt und wollten dann meine Gesamtarbeit würdigen. Aber ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung.
Wie war Ihre Reaktion, als Sie Ihr Konterfei in der Nordkurve gesehen haben?
Ich war platt. (stammelt) Das kommt selten vor, aber ich war sprachlos. Man merkt’s auch jetzt! Beim Spiel dachte ich erst, ich sehe nicht recht. Ich kann das auch heute noch nicht ganz einordnen. Ich habe mich gefragt: Hast du das verdient? So wie ich mich 2014 auch gefragt habe: Hast du das verdient?
Sie meinen den Versuch, Sie als Mitglied des Aufsichtsrats abzusetzen.
Ja. Ich habe 20 Jahre für die BBC gearbeitet und 2013 den Auftrag bekommen, nach dem Champions-League-Finale zwischen Dortmund und Bayern etwas Lustiges im Fernsehen zu machen. Ich habe von Franken geschwärmt und vom fränkischen Bier. Und dabei habe ich mir dann zu Hause nach Mitternacht einen Bayern-Champions-League-Schal um den Hals gelegt. Eine Mütze von Jürgen Klopp mit einem großen „K“ lag aber natürlich auch bereit. Ich fand das ganz normal, weil ich immer zu den lokalen Vereinen halte. Ich halte auch zu Fürth, solange sie nicht gegen den Club spielen. Jedenfalls wollten mich die Ultras dann loswerden und haben ein Jahr später bei der Jahreshauptversammlung einen Dringlichkeitsantrag vorgebracht.
Welche Erinnerungen haben Sie an diesen Abend?
Es war ein Spektakel. Ich habe gekämpft wie ein Löwe. So was liebe ich ja. Wenn ich angriffen werde, laufe ich zur Hochform auf. Der Antrag wurde dann nicht mal zugelassen, aber es war trotzdem sehr bitter und tat weh. Ich wurde von Meisterspielern getröstet, weil ich das mitmachen musste. Das war eine Bloßstellung!
Was fehlt dem 1. FC Nürnberg, um in die Bundesliga aufzusteigen?
(überlegt wieder lange) Das weiß ich nicht.
Wie bitte? Es gibt etwas, das Sie nicht wissen, wenn es um den Club geht?
Ja. Anscheinend schon.