Heidenheim vor dem Aufstieg:Großeinsatz für Kleindienst

Heidenheim vor dem Aufstieg: Steht aktuell schon bei 23 Saisontoren: Tim Kleindienst.

Steht aktuell schon bei 23 Saisontoren: Tim Kleindienst.

(Foto: Harald Bremes/Jan Huebner/Imago)

Der 1. FC Heidenheim steht schon wieder vor dem Aufstieg in die Bundesliga. Über einen speziellen Fußballstandort mit einem speziellen Torjäger.

Von Christof Kneer, Heidenheim

Egal, aus welcher Richtung man nach Heidenheim kommt, Tim Kleindienst ist schon da. Man kommt nicht an ihm vorbei, oder nein, es ist andersherum: Man kommt an ihm vorbei, allerdings im Wortsinn. Er hängt überall. Auf riesigen Plakaten wird auf das anstehende Heimspiel gegen den 1.FC Magdeburg (Sonntag, 13.30 Uhr) hingewiesen, auf dem Plakat stehen eine Menge Spieler herum, deren Namen das Fußballland vielleicht bald auswendig lernen muss. Im Zentrum des Bildes steht, nicht zu übersehen, Tim Kleindienst.

Kleindiensts Name hat sich inzwischen herumgesprochen, nicht nur im ostwürttembergischen Kreis Heidenheim und den angrenzenden Liegenschaften. "Kleindienst" ist zu einer Chiffre für schier Unglaubliches geworden. Der Stürmer steht für zwei Phänomene, die in diesem Business nicht mehr vorgesehen sind. Das gibt es ja nicht, dass ein Spieler erst mit 27 Jahren in eine Karriere startet. Und dass er ein Städtle in die Bundesliga schießt, das man auf der Landkarte erst suchen und dann noch von Heidenheim/Mittelfranken unterscheiden muss, das gibt es sowieso nicht.

Wenn Wortspiele mit Namen erlaubt wären (was sie selbstverständlich nicht sind), könnte man jetzt sagen, dass der 1.FC Heidenheim gerade dabei ist, auf dem Klein-Dienst-Weg in die erste Liga aufzusteigen. Aber noch ist es nicht so weit. Immer noch kann es passieren, dass den Spielern des Tabellenzweiten die Angst in die Füße fährt, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Ein Verein, der Jahrzehnte auf den Sportplätzen des schwäbischen Amateurfußballs herumgebolzt hat und innerhalb von 15 Jahren von ein und demselben Trainer quer durch alle Ligen gecoacht wird, ohne einen Großgeldgeber wie Hopp oder Mateschitz oder Kühne oder Kind? Von einem Trainer, der ebenso aus regionalem Anbau stammt wie der Vorstandsvorsitzende, der schon in der Landesliga in Heidenheim gekickt hat und 1994 als Leiter der Fußballabteilung anfing?

Tim Kleindienst ist ein Spätblüher unter den Strafraumgewächsen

Frank Schmidt, der Trainer, und Holger Sanwald, der Vorstandsvorsitzende, sind unüberhörbare Ostalbschwaben und spinnen nicht. Das ist wichtig im Moment, auch für die Fußballmannschaft, die ebenfalls nicht spinnt. Die größte Ruhe in diesem surrealen Aufstiegsszenario gibt den Spielern aber ein Mitspieler. Vornedrin steht Tim Kleindienst, der den Ball am Ende des Schaffe-schaffe-Schaffensprozesses verlässlich über die Linie schiebt, lenkt, köpft oder schießt.

Tim Kleindienst ist ein Spätblüher unter den Strafraumgewächsen, und wer ihm im Moment dabei zusieht, wie er unter Hinzuziehung unterschiedlicher Körperteile nahezu mühelos seine Tore erzielt, ertappt sich automatisch bei der Frage: Gehört Kleindienst zu jener Sorte von Zweitligatorjägern, die in der ersten Liga sofort aufhören, Bälle über die Linie zu schieben, lenken oder köpfen? Oder hat er sich im Laufe seiner speziellen Karriere eine Reife erarbeitet, die ihn zum konkurrenzfähigen Erstligastürmer macht?

Die Wahrheit ist, dass sie das ja selbst nicht wissen in Heidenheim. Aber sie würden es gerne herausfinden, gemeinsam mit Tim Kleindienst.

Fest steht, dass sie auf der Ostalb alles getan haben, was in ihrer Macht steht. In ihren inzwischen auch schon neun Jahren in der zweiten Liga hat sich der Standort zu einem Schlaraffenländle für Mittelstürmer entwickelt. Florian Niederlechner war schon hier, später Robert Glatzel, sie alle profitierten von jener "Systematik", die Kleindienst kürzlich beschrieben hat. Er könne nur so viele Tore schießen, weil er so viele gute Zulieferer habe, sagte er und nannte stellvertretend den Flügelspieler Jan-Niklas Beste, einen jungen Mann mit einem immensen Bart. Beste kann fast so verzinkt flanken wie der legendäre Heidenheimer Marc Schnatterer, der in einem Pokalspiel sogar mal die Bayern verrückt gemacht hat. In Heidenheim spielen sie ihren Fußball ohne Umschweife. Sie spielen so direkt, wie man auf der Ostalb schwätzt.

Inzwischen schießt Kleindienst sogar Tore, ohne dass er dafür eine Torchance braucht

In diesem schwäbischen Milieu ist der Brandenburger Tim Kleindienst zur bestmöglichen Version seiner selbst geworden. Sein Saison-Zählerstand zeigt 23 Ligatreffer an, inzwischen schießt er sogar Tore, denen nicht mal eine richtige Torchance vorausgeht. Kleindienst ist eine echte Nummer neun, aber auch eine falsche echte Neun. Er schießt die klassischen Strafraumtore, aber er weicht auch auf die Flügel aus und haut sich hinten in die Zweikämpfe. Er läuft eigentlich zu viel für einen Mittelstürmer, aber all die Kilometer geben ihm ein gutes Gefühl fürs Spiel. Manchmal läuft er im Mittelfeld los, er läuft und läuft, und das sieht gar nicht gefährlich aus. Irgendwann schießt er dann, mit rechts oder links, und das sieht gar nicht scharf aus. Und dann ist der Ball drin, der Torwart schaut verdutzt, und der Zählerstand springt wieder eins hoch.

"Tim weiß, dass er hier ein leistungsförderndes Klima vorfindet", sagt der Vorstandschef Sanwald, "und er hat einen Trainer, der ihm total vertraut. Das war in seiner Karriere ja nicht immer so." Als Kleindienst den Zweitligisten Energie Cottbus einst für den Zweitligisten SC Freiburg verließ, galt er als Kann-man-mal-probieren-Talent, ganz okay, nichts Überragendes. Er wurde nach Heidenheim verliehen, traf, kehrte nach Freiburg zurück, traf nicht mehr. Im Sommer 2019 kauften ihn die Heidenheimer dann, er traf wieder regelmäßig, aber im Sommer 2020 konnte er nicht widerstehen: Er nahm ein Angebot des belgischen Europapokal-Teilnehmers KAA Gent an, unterschrieb für vier Jahre. Und erlebte dort vier Trainer, in vier Monaten.

Nach sechs Monaten war er wieder zurück in Heidenheim, zurück in dem Städtle, in dem es nur einen Trainer gibt und sie alles für ihre Mittelstürmer tun. "Es ist schon eine sehr besondere Beziehung zwischen Tim und uns", sagt Holger Sanwald.

Die kommenden Wochen werden nun zu einem Großeinsatz für Kleindienst. Seine Tore sollen verhindern, dass den Kollegen kurz vorm großen Ziel der Zitterer (nicht zu verwechseln mit: Schnatterer) in die Füße fährt, aber Kleindienst wird ein bisschen aufpassen müssen, wenn er wieder an allen Ecken und Enden des Spielfelds auftaucht. Er führt in Heidenheim nicht nur die Torjägerliste an, sondern auch die Statistik mit den gelben Karten. Acht hat er schon. Bei zehn wäre er im Aufstiegsrennen gesperrt.

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