1. FC Heidenheim:Auch mit Navi schwer zu finden

Lesezeit: 2 min

Grenzenloser Jubel: Soziale Distanzen spielten bei Torschütze Kilian Kerschbaumer (rechts) und seinem Trainer Frank Schmidt verständlicherweise keine Rolle. (Foto: Eibner-Pressefoto/Sascha Walther)

Dem Überraschungs­team der zweiten Liga ist bei einem Sieg am letzten Spieltag der Relegationsplatz drei sicher.

Von Thomas Hürner, Heidenheim

Wer nach dem Gegenmodell zum traditionsbeladenen Klub aus der Hafenmetropole sucht, womit natürlich der einst große und jetzt nicht mehr ganz so große Hamburger SV gemeint ist, der muss aufpassen, dass er nicht in einem kleinen Markt in Mittelfranken landet. Heidenheim liegt nämlich nicht nur an der Brenz, da sind sich zumindest moderne Navigationssysteme sicher, und dieser Umstand kann wiederum zu folgenreichen Verwechslungen führen. Der ein oder andere Reporter soll schon in diesem Heidenheim in Mittelfranken gelandet sein, das erzählen zumindest Mitarbeiter des 1. FC Heidenheim an der Brenz, natürlich in entsprechendem Ostbalb-Dialekt und mit einem breiten Grinsen im Gesicht.

Diese Verwechslung wird sich zwar auch in Zukunft nicht vollständig ausschließen lassen, aber vielleicht werden handelsübliche Navigationssysteme ja demnächst mit einem Hinweis versehen, am besten in weißer Fettschrift auf rotem Grund: Bundesligastadt Heidenheim, Baden-Württemberg, Geburtsort und Lebensmittelpunkt des großen Schutzheiligen Frank Schmidt.

Im Fußball haben sich schon so viele vermeintliche und echte Wunder ereignet, dass das zusammengesetzte Nomen "Fußballwunder" allmählich an Bedeutung verliert. Aber nach den Ereignissen vom Sonntagnachmittag im Heidenheimer Stadion (an der Brenz) könnte es sein großes und wirklich ernst gemeintes Comeback erleben. Normalerweise wäre natürlich das halbe Dorf, das in Wahrheit eine Stadt von 50 000 Einwohnern ist, da gewesen, um sich dieses Spiel der Spiele ihres 1. FC Heidenheim gegen den Hamburger SV anzusehen. Ging nicht, aus bekannten Gründen, aber die Bilder hätten wohl auch dem verbittertsten Fußballromantiker einen rührenden Moment beschert: 2:1 gegen den HSV, in einem Finale furioso nach Rückstand noch doppelt getroffen, einmal in der 80. Minute durch ein Eigentor und quasi mit dem Schlusspfiff durch einen Schuss vom eingewechselten Mittelfeldspieler Konstantin Kerschbaumer, aufgelegt von keinem geringeren als dem Heidenheimer Urgestein und Publikumsliebling Marc Schnatterer.

Das sind die Geschichten, aus denen diese ominösen Fußballträume gemacht sind. "Was hier heute stattgefunden hat, war der absolute Wahnsinn", sagte Frank Schmidt, und wenn jemand die Besonderheit dieses Tages für den 1. FC Heidenheim einschätzen kann, dann er: Der Aufstieg des Klubs begann, als Schmidt im Herbst 2007 Trainer wurde, besser gesagt: die Aufstiege.

Schmidt übernahm den Job eigentlich nur als Übergangslösung, von der Oberliga führte er seinen 1. FCH daraufhin bis in die zweite Bundesliga, und jetzt kann er als dienstältester Trainer im deutschen Profifußball für eine der größten Überraschungen sorgen, die es in dieser Branche je gegeben hat. Bei einem Sieg am letzten Spieltag gegen den Zweitligameister Armina Bielefeld wäre den Heidenheimern der Relegationsplatz drei nicht mehr zu nehmen, für Platz zwei müsste der VfB Stuttgart extrem hoch verlieren und Heidenheim extrem hoch gewinnen. Andererseits: Ausschließen kann man beim 1. FC Heidenheim wirklich fast gar nichts mehr.

Aber wie bewerkstelligt man so einen gewaltigen Aufschwung? Schmidt jedenfalls hebt gerne hervor, dass fachliche Expertise natürlich nicht ganz unwichtig sei, aber wer so lange am selben Ort Trainer ist, der benötige vor allem zweierlei: viel Sozialkompetenz und ein möglichst kleines Ego. Denn wer sich selbst nicht zu wichtig nimmt, der kann den anderen schließlich noch ein bisschen mehr geben. So spielt der 1. FC Heidenheim auch Fußball, wie am Sonntagnachmittag gegen den großen HSV zu beobachten war: pragmatisch und doch wild entschlossen, wenn sich die Möglichkeit für einen fußballerischen Überfall ergibt. "Das ist die Moral vom 1. FC Heidenheim", sagte Schmidt, "wie schon seit Jahren." Oder, wenn man es zuspitzen will: 13 Jahre, in denen beim HSV 18 Mal so viele Trainer angestellt waren wie in Heidenheim an der Brenz.

© SZ vom 23.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: