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Vom Brennpunkt zum Sozialindex
Vom Brennpunkt zum Sozialindex

Der Münchner Stadtteil Neuperlach (oben) entstand wie so viele Satellitenstädte ab Ende der Sechzigerjahre. Aufgrund der Bevölkerungsstruktur mit ihren vielen sozial benachteiligten Menschen waren Probleme vorprogrammiert. Fotos: Adobe Stock

BILDUNG AKTUELL

Vom Brennpunkt zum Sozialindex

Das Startchancen-Programm könnte eine Wende in der Förderpolitik für Schulen auslösen zu Gunsten von Schülern und Lehrpersonal

Brennpunktschule: Ein Begriff wie ein Brandmal. Diejenigen, die dort den Unterricht besuchen (müssen), haben zumindest mit Vorurteilen zu kämpfen. Eine Befürchtung, die wohl auch die bayerische Kultusministerin Anna Stolz (FW) teilte, als sie im Februar Bedenken gegenüber dem „Startchancen“-Programm von Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) anmeldete, da sie unter anderem eine „Stigmatisierung“ der Schulen mit hohem Förderbedarf befürchtete. Jedoch kommt der Terminus„Brennpunktschule“ weder in den aktuellen Veröffentlichungen des Bundesbildungsministeriums (BMBF) noch auf den Seiten des Kultusministeriums oder denen der Kultusministerkonferenz vor. Stattdessen soll bei „Startchancen“ ein Sozialindex-System eine wesentliche Rolle spielen. Der Haken dabei: Der Sozialindex, der die soziale Zusammensetzung der Kinder und Jugendlichen an einer Schule abbilden soll, wird wohl von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich sein.

Ob die Diskussion um Bildungsgerechtigkeit, um die es letztendlich geht, dadurch vor einem Paradigmenwechsel steht, wird sich zeigen. Denn die Metapher„Brennpunktschule“ hat sich tief ins kollektive Gedächtnis der deutschen Soziologieund Pädagogik-Szene eingebrannt. Der Grund ist der fast sechzig Jahre alte Diskurs um „Soziale Brennpunkte“. In den 1960er-Jahren wurde zunehmend klar, dass das bundesdeutsche Wirtschaftswunder nicht alle erreicht hatte. Geschweige denn die sogenannten Gastarbeiter, an deren Integration kaum jemand dachte. Max Frischs Diktum„Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen“, stammt zwar aus dem Jahr 1965, das der Schweizer damals in einem Vorwort zu einem Buch seines Landsmanns Alexander J. Seiler über italienische Gastarbeiter, verfasst hatte. Seine Wirkung entfaltete es erst mit der Veröffentlichung von Frischs„Tagebuch 1966-1969“, das 1972 erschien.

In eben jener Zeit entstanden allerorten gut gemeinte Trabantenstädte - die Gropiusstadt in Berlin, die Neubausiedlungen Neuperlach und Hasenbergl in München oder Nürnberg-Langwasser. Deren nicht vorhergesehene Probleme wurden ab Ende des Jahrzehnts unter dem Terminus„sozialer Brennpunkt“ zusammengefasst. Denn tatsächlich wurde mit diesen Bauprojekten soziale Ausgrenzung zementiert, lebten hier doch vornehmlich Menschen mit niedrigen Einkommen oder als Sozialhilfeempfänger. Die Plattenbausiedlungen aus DDR-Zeiten reihten sich nach der Wende in diese ungute Tradition ein. Die Brennpunktschule war als Bezeichnung wie als Phänomen eine Fortsetzung dieser Entwicklung. Sie wurde geradezu zum Beleg eines bürgerlichen Bildungsverständnisses, das Bildungserfolg von jeher mit der sozialen Herkunft verbindet.

Ein Problem, das bis heute besteht und das etwa die PISA-Studien immer wieder angesprochen haben. Der ifo-Bildungsmonitor formulierte daher im vergangenen Herbst: „Die Unterschiede in den Bildungschancen der Kinder und Jugendlichen in Deutschland haben ein gewaltiges Ausmaß: Je nach dem familiären Hintergrund der Eltern beträgt die Wahrscheinlichkeit, ein Gymnasium zu besuchen, zwischen einem Fünftel und vier Fünfteln.“ Weniger bedeutend sei indes ein Migrationshintergrund, hebt der Leiter des ifo-Zentrums für Bildungsökonomik, Ludger Wößmann, hervor. Das Bundesbildungsministrium verhandelte zu dieser Zeit gerade mit den Bundesländern die endgültige Ausgestaltung des Bund-Länder-Milliarden-Programms Startchancen: „Wir fördern genau die Schulen, die unsere Hilfe am dringendsten benötigen: Schulen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler“, betonte Ministerin Stark-Watzinger nach der Einigung.

Dazu zählen bis heute die Bildungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche. Schulen sind häufig sehr viel schlechter ausgestattet als in sogenannten bürgerlichen Vierteln und in teilweise erbärmlichem Zustand. Das soll sich mit dem Startchancen-Programm ändern. Dann könnten in naher Zukunft Klassenräume so wie auf dem Beispielfoto rechts aussehen. Fotos: KI-gen. 
Dazu zählen bis heute die Bildungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche. Schulen sind häufig sehr viel schlechter ausgestattet als in sogenannten bürgerlichen Vierteln und in teilweise erbärmlichem Zustand. Das soll sich mit dem Startchancen-Programm ändern. Dann könnten in naher Zukunft Klassenräume so wie auf dem Beispielfoto rechts aussehen. Fotos: KI-gen. 

Rechenmodelle

Einen wichtigen Beitrag zur Umsetzung des Programms und der Verteilung der Gelder leistete im vergangenen Jahr Professor Marcel Helbig vom Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LifBI). Im Rahmen einer Studie für das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung verfasste er ein Diskussionspapier mit dem sperrigen programmatischen Titel: „Eine ,faire' Verteilung der Mittel aus dem Startchancenprogramm erfordert eine ungleiche Verteilung auf die Bundesländer“ Er berechnete dabei erstmals die Kinderarmutsquoten für alle öffentlichen Grundschulen. Seine Datengrundlage sind dabei die Schulen, die im Schuljahr 2019/2020 tätig waren. Die Armutsquote macht Helbig an Kindern fest, deren Eltern Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II erhalten hatten, damals also Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe. Helbigs Ergebnisse sind im Grunde nicht überraschend: Demnach befinden sich anteilig die meisten Schulen mit einer hohen Kinderarmutsquote in Nordrhein-Westfalen sowie in den drei Stadtstaaten, die wenigsten in Bayern und Baden-Württemberg. Der Ausmaß der Diskrepanz hingegen schon: In den beiden Südstaaten liegt die Armutsquote bei mehr als 80 Prozent der Grundschuleinzugsgebiete unter zehn Prozent. In Nordrhein-Westfalen, dem Saarland und den Stadtstaaten haben hingegen weniger als 40 Prozent der Grundschuleinzugsgebiete eine Armutsquote von unter zehn Prozent. Auf die Summe aller Schulen in den jeweiligen Ländern gerechnet heißt das: In Bayern weisen nur 0,4 Prozent, in Baden-Württemberg nur 0,8 Prozent aller Schulen Armutsquoten von über 30 Prozent aus. In Nordrhein-Westfalen überschreiten hingegen 17,1 Prozent aller Grundschulen diesen Wert, im Saarland sind es 16,1 Prozent, in Hamburg 20,6 Prozent, in Berlin sind es 39,2 Prozent und im Bundesland Bremen fast die Hälfte aller Grundschulen.

Wenn die Mittel des Startchancen-Programms für die Grundschulen ausschließlich an die 2000 Grundschulen mit der höchsten Kinderarmutsquote - die Helbig bei größer als 23,1 Prozent definiert - vergeben würden, dann würden nur 23 bayerische Grundschulen (von insgesamt 2255 Grundschulen) staatliche Fördergelder erhalten, in Baden-Württemberg wären es 51 Grundschulen (von 2323). In beiden Ländern würden hauptsächlich Grundschulen unterstützt, die in einem überwiegend städtischen Umfeld situiert sind: 97 Prozent in Bayern, 96 Prozent in Baden-Württemberg. Die mit weitem Abstand meisten Mittel flössen ins bevölkerungsreichste Bundesland Nordrhein-Westfalen: Hier würden 741 (von 2677 Grundschulen) von den Startchancen profitieren, 99,5 Prozent liegen in Städten. Überraschender Zweiter wäre das Bundesland Niedersachsen mit 230 von 1649 Grundschulen, davon sind 76 Prozent im städtischen Umfeld angesiedelt. Auf Rang drei der Zuschüsse läge Berlin mit 186 von 364 Schulen. Die ostdeutschen Länder rangierten fast durchweg im Mittelfeld, in Bezug auf die Anzahl der nach diesem Modell geförderten Schulden. Die wenigsten Fördergelder flössen übrigens nach Mecklenburg-Vorpommern: Hier erhielten nur 30 von 267 Grundschulen finanzielle Unterstützung.

Doch auch der seit Jahrzehnten angewendete „Königsteiner Schlüssel“ kam nicht zur Anwendung, mit dem ansonsten Fördermitteln ausgeschüttet werden. Nach dessen Verteilungsprinzip - zwei Drittel Steueraufkommen, ein Drittel aus der Bevölkerungszahl des jeweiligen Landes - hätte Bayern einen Anspruch auf 15,56 Prozent der Programmmittel von jährlich zwei Milliarden Euro, also rund 311 Millionen Euro im Jahr. Der Grundschulanteil läge bei zirka 186 Millionen. Nach dem Helbig-Modell erhielten die 34 förderbedürftigen bayerischen Grundschulen hingegen zusammen nur 17,7 Millionen Euro jährlich (mit einem Förderbetrag von 520.000 Euro pro Schule). Wie viele Mittelschulen, Realschulen und Berufsschulen bundesweit und bayernweit nach den Armutskriterien Zuschüsse benötigten, hat Helbig nicht ausgerechnet. Aus methodischen Gründen, wie er schreibt.

Kompromisslösung

Die Bund-Länder-Kommission einigte sich daher auf einen Kompromiss, der sowohl die Armutsdimension wie auch die Königsteiner Prinzipien berücksichtigt. Rund 550 Schulen des Freistaats werden nun mit 286.000 Millionen Euro bedacht, die 330 ausgewählten Grundschulen erhalten gemeinsam in etwa 171,6 Millionen Euro - Beträge, die sehr viel näher am altbewährten Verteilungssystem liegen. Doch der Anfang zu einer bedarfsorientierten Förderung ist gemacht. Welche Schulen im Einzelnen bedacht werden, ist in den meisten Bundesländern noch offen. Im Freistaat werden es insgesamt 550 Schulen sein. Außer Grundschulen sollen auch Mittelschulen, Realschulen und Berufsschulen in das Programm einbezogen werden.

Jedes Land muss dazu ein Sozialindex-System für seine Schullandschaft erarbeiten. Damit soll die soziale Zusammensetzung von Schulen des gleichen Typus vergleichbar sein, damit die Verteilung der Fördermittel transparent und gerecht erfolgen kann. Das bayerische Kultusministerium hat bis dato keine Sozialindex-Tabelle der bayerischen Schulen veröffentlicht. In der Stadt Augsburg veröffentlichte die Rathaus-Koalition aus CSU und Grünen Ende April eine Liste von zehn Grund- und Mittelschulen aus den Stadtteilen Oberhausen, Lechhausen und Bärenkeller, die im Startchancen-Programm berücksichtigt werden sollen.
Horst Kramer

Er­schie­nen im Ta­ges­spie­gel am 18.05.2024

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