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Erkrankungen der Aorta: „Tendenziell lebensbedrohlich“

In Aorten-Zentren arbeiten Herz- und Gefäßchirurgie eng zusammen, denn Erkrankungen der sogenannten „Hauptschlagader“ sind oft lebensgefährlich und erfordern schnelles Handeln von Ärztinnen und Ärzten. Foto: Adobe Stock

Forum Spitzenmedizin

Erkrankungen der Aorta: „Tendenziell lebensbedrohlich“

Professor Nikolaos Tsilimparis und Professor Maximilian Pichlmaier, Zentrumsleiter des Universitären Aortenzentrum am LMU Klinikum über komplexe Aortenerkrankungen und deren Behandlung

Viele Jahre lang hat Harald Reiter nicht gewusst, dass er praktisch permanent in Lebensgefahr schwebte. „Alles begann vor etwa zwanzig Jahren damit, dass ich körperlich nicht mehr so belastbar war“, erinnert sich der heute 56-Jährige. Er, der bis dahin jede Woche mindestens sechzig Kilometer gelaufen war, fand plötzlich alltägliche Aktivitäten wie Treppensteigen extrem anstrengend. „Chronisches Erschöpfungssyndrom“ lautete schließlich die ärztliche Diagnose – eine organische Ursache hatte man nicht feststellen können. Im Februar 2018 war Harald Reiter plötzlich querschnittsgelähmt. Aus der Klinik, in die er als Notfall eingeliefert worden war, wurde er jedoch kurze Zeit später wieder entlassen – der Verdacht „Bandscheibenvorfall“ hatte sich nicht bestätigt. Dass Harald Reiter eigentlich umgehend auf den OP-Tisch des Herzchirurgen gehört hätte, blieb unentdeckt – ein Irrtum, der ihn fast das Leben gekostet hätte. Stattdessen quälten ihn weitere zehn Tage heftigste Rückenschmerzen, bis der neue Hausarzt einen Aortenriss für möglich hielt. Die eilig anberaumte CT-Untersuchung bestätigte: Im obersten Abschnitt der Aorta, in unmittelbarer Nähe des Herzens, war ganz deutlich ein Riss zu sehen.

Fragile Aorta

Die Aorta, die vom Herzen durch Brustkorb und Bauch bis ins Becken zieht, ist das zentrale Gefäß des Körperkreislaufs – und sie wird neuerdings als eigenständiges Organ eingestuft: „Von der Aorta hängt die gesamte Versorgung des Körpers mit sauerstoffreichem Blut ab, deshalb auch die Bezeichnung, Hauptschlagader“, erklärt der Direktor der Abteilung für Gefäßchirurgie des LMU Klinikums, Professor Nikolaos Tsilimparis. Erkrankungen der Aorta sind oft eine Alterskrankheit – dass auch schon deutlich Jüngere wie Harald Reiter betroffen sind, ist selten. Gefürchtet sind vor allem sackartige Ausbuchtungen der Gefäßwand. Ein solches Aneurysma tritt am häufigsten im Aortenabschnitt des Bauchraums auf und bleibt lange Zeit unbemerkt. Dadurch steigt jedoch die Gefahr, dass das strapazierte Gefäß dem Druck des Blutstroms irgendwann nicht mehr standhalten kann und plötzlich platzt. „Deshalb werden Aneurysmen auch ,silent killer' genannt“, sagt Professor Tsilimparis.

Die Aorta zieht vom Herzen durch Brustkorb und Bauch bis ins Becken und ist von den zuständigen europäischen und US-amerikanischen Fachorganisationen als eigenes Organ anerkannt. Foto: Adobe Stock
Die Aorta zieht vom Herzen durch Brustkorb und Bauch bis ins Becken und ist von den zuständigen europäischen und US-amerikanischen Fachorganisationen als eigenes Organ anerkannt. Foto: Adobe Stock

Seltener, aber ebenfalls potenziell lebensbedrohlich ist eine Aortendissektion. Hiervon ist häufig die Brustaorta betroffen – und je näher zum Herzen, desto gefährlicher für den Betroffenen. Ausgangspunkt ist meist ein Riss der innersten Gewebeschicht der Aorta. Dadurch dringt Blut in die Gefäßwand ein und drückt die Wandschichten auseinander. In diesem Zwischenraum kann nun ein neuer blutgefüllter Gefäßraum entstehen, durch den die abgehenden Gefäße so stark eingeengt werden, dass nicht mehr ausreichend Blut zu den Organen im Versorgungsgebiet gelangt. Hält die äußerste Aortenwandschicht dem Druck der Blutsansammlung im Gefäßinneren nicht mehr stand und reißt ebenfalls ein, kommt es zu einer Aortenruptur.

Wird nicht umgehend notoperiert, verblutet der Betroffene innerhalb kürzester Zeit innerlich. „Insgesamt verstirbt mehr als die Hälfte der Patienten, bevor überhaupt behandelt werden konnte“, sagt der stellvertretende Direktor der Herzchirurgischen Klinik des LMU Klinikums, Professor Maximilian Pichlmaier, der gemeinsam mit Professor Tsilimparis das Universitäre Aortenzentrum des LMU Klinikums leitet. Aber auch dann, wenn die beiden inneren Strukturen der Aortenwand aufgetrennt, die äußere dünne Haut der Aorta jedoch noch intakt ist, gelangt Blut aus dem Gefäß nach außen. Bei Harald Reiter war das Blut in Richtung Wirbelsäule gesickert und hatte sich dort als Blutsack angesammelt. „Dass der Blutsack genau gegen die Wirbelsäule drückte, hat mein Leben gerettet. Nur deshalb ist das äußere Aortenhäutchen nicht auch noch gerissen – und nur deshalb bin ich nicht daran gestorben“, sagt Harald Reiter. Den Ärzten gelang es, die Aortenwand in einer Notoperation zu stabilisieren. Aber es hatte sich gezeigt, dass auch andere Gefäßabschnitte vergrößert waren: „Wie eine Rübenknolle sah meine Aorta aus“, erinnert sich Harald Reiter. Ein derart ausgeprägtes Krankheitsbild, das im Fall von Harald Reiter vermutlich aufgrund einer genetisch bedingten Bindegewebsschwäche hervorgerufen wurde, verlangt nach einer spezialisierten Betreuung in einem Kompetenzzentrum, wo Herzchirurgie und Gefäßchirurgie eng vernetzt sind. Deshalb wandte sich Harald Reiter an die Aortenchirurgie des LMU Klinikums. Professor Pichlmaier fand schließlich auch den Grund für die chronische Kraftlosigkeit, die so lange seine Lebensqualität beeinträchtigt hatte: eine ausgeprägte Herzschwäche als Folge abgenickter Koronararterien und einer defekten Aortenklappe, die durch eine aufgeweitete Aortenbasis undicht geworden war. Inzwischen hat Harald Reiter viele weitere Operationen überstehen müssen. Die Aortenklappe seines Herzens wurde in einem aufwendigen Eingriff rekonstruiert, der linke Arm wird nach einer Bypass-Operation nun von der Halsschlagader versorgt und immer wieder musste ein geweitetes Segment der Hauptschlagader chirurgisch mithilfe eines Stents stabilisiert werden. Im November 2023 erfolgte eine weitere Operation, von der Harald Reiter hofft, dass dies nun der letzte gefäßchirurgische Eingriff gewesen ist: Über einen offenen Bauchschnitt wurde die aufgeweitete Bauchaorta durch eine spezielle Bauchprothese ersetzt. „Der Eingriff war aufwendig und riskant. Aber das erste Mal seit vielen Jahren blicke ich zuversichtlich in die Zukunft.“

Professor Nikolaos Tsilimparis (li) ist Direktor der Abteilung für Gefäßchirurgie, Professor Maximilian Pichlmaier stellvertretender Direktor der Herzchirurgischen Klinik des LMU Klinikums. Gemeinsam leiten sie das Universitäre Aortenzentrum des LMU-Klinikums. Foto: LMU Klinikum München/Steffen Hartmann
Professor Nikolaos Tsilimparis (li) ist Direktor der Abteilung für Gefäßchirurgie, Professor Maximilian Pichlmaier stellvertretender Direktor der Herzchirurgischen Klinik des LMU Klinikums. Gemeinsam leiten sie das Universitäre Aortenzentrum des LMU-Klinikums. Foto: LMU Klinikum München/Steffen Hartmann

Hochleistungsmedizin rettet Leben

In einem Aortenzentrum arbeiten Herzchirurgie und Gefäßchirurgie Hand in Hand und in enger Abstimmung mit der Kardiologie, Angiologie und Radiologie. Je nachdem, welcher Abschnitt der Aorta betroffen ist und welche Organsysteme in das Krankheitsgeschehen direkt oder indirekt involviert sind, werden weitere Fachärzte, zum Beispiel aus der Gynäkologie, Geburtshilfe, Neurologie, Gastroenterologie und Humangenetik, für die Therapieentscheidung hinzugezogen. Dieser interdisziplinäre Schulterschluss ist für eine erfolgreiche Behandlung von komplexen Aortenerkrankungen unverzichtbar, wie der Gefäßchirurg Professor Nikolaos Tsilimparis und der Herzchirurg Professor Maximilian Pichlmaier vom Universitären Aortenzentrum des LMU Klinikums München erklären.

Herr Professor Tsilimparis, weshalb sollten sich Patienten mit einer Aortenerkrankung möglichst in einem Aortenzentrum behandeln lassen?

Professor Nikolaos Tsilimparis: Bei fast allen Aortenerkrankungen handelt es sich um sehr komplexe Krankheitsbilder, die potenziell lebensbedrohlich sind und die meist nur mithilfe von chirurgischen Eingriffen erfolgreich behoben werden können. Dementsprechend sind eine differenzierte Diagnostik, eine genaue Risikoeinschätzung und eine individuell darauf abgestimmte Therapieentscheidung unverzichtbar, um jedem einzelnen Patienten die optimale Behandlung zukommen zu lassen. Dies setzt die Expertise eines hochspezialisierten Ärzteteams voraus, das mit allen diagnostischen Methoden und zur Verfügung stehenden klassischen und modernen OP-Techniken bestens vertraut ist...

Professor Maximilian Pichlmaier: ... Dies gilt umso mehr, da heute einige Erkrankungen der Aorta mit minimal-invasiven oder Hybridtechniken auch bei älteren Patienten gut behandelt werden können – in einem Aortenzentrum gehören diese besonders anspruchsvollen Verfahren, wie die klassischen Methoden, zu den Routineeingriffen. Außerdem ist nur in einem Aortenzentrum eine reibungslose Zusammenarbeit der verschiedenen Fachrichtungen gewährleistet. Diese interdisziplinäre Ausrichtung ist schon allein deshalb unerlässlich, weil bei einer Aortenerkrankung immer auch die von der Hauptschlagader durchbluteten Organe berücksichtigt werden müssen.

Eine Aortenerkrankung muss oft chirurgisch behandelt werden. Wie gehen Sie vor?

Professor Tsilimparis: Meist geht es darum, ein geschädigtes Segment durch eine Aortenprothese zu stabilisieren, zu umgehen oder zu ersetzen. Dabei stützt sich die Aortenchirurgie auf drei Säulen: auf endovaskuläre Verfahren, bei denen eine Gefäßstütze – eine Stentprothese – über einen speziellen Katheter in den Leistengefäßen von innen in die Hauptschlagader eingebracht wird, auf offen-chirurgische Verfahren, bei denen die Prothese an die Aorta als Ersatz vor und hinter der Erweiterung angenäht wird, und auf Hybrid-Operationen, bei denen die Methoden der endovaskulären und offen-chirurgischen Therapie miteinander kombiniert werden. Welche davon im Einzelfall den größtmöglichen Behandlungserfolg verspricht, wird im Aortenzentrum in interdisziplinären Fallbesprechungen für jeden Patienten individuell festgelegt.

Wann ist die Herzchirurgie und wann die Gefäßchirurgie gefragt?

Professor Pichlmaier: Grob gesagt, ist die Herzchirurgie für den Teil der Aorta zuständig, der als „aufsteigende Aorta“ mit der Aortenklappe aus der linken Herzkammer entspringt und dann im Bogen durch den Brustkorb, dem Aortenbogen, verläuft. Der als „absteigende Aorta“ bezeichnete Aortenabschnitt ist heutzutage eher die Domäne der Gefäßchirurgie: Sie verläuft durch den gesamten Brust- und Bauchraum, bis sie sich im Beckenbereich in die beiden großen Beinarterien aufteilt. Aber natürlich kommt es häufig vor, dass die Therapiestrategie nach einem gemeinsamen Vorgehen von Herzchirurgie und Gefäßchirurgie verlangt – je nach genauer Lokalisation und Ausdehnung der Aortenerkrankung.

Nicole Schaenzler

Er­schie­nen im Ta­ges­spie­gel am 17.05.2024

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