
Die Idee für die Spendenaktion brachte vor 75 Jahren Werner Friedmann von einer USA-Reise mit. Die New York Times berichtete über Bürgerinnen und Bürger in Not, denen die Leserinnen und Leser dann unmittelbar halfen. Das funktionierte auch in München. Friedmann, dem der Spiegel ein „versiertes Einfühlungsvermögen in den trügerischen Charme seines ,Millionendorfs'“attestierte, war Verleger, Chefredakteur und Herausgeber der Süddeutschen Zeitung sowie, ab 1961, Herausgeber der Abendzeitung und Gründer der Deutschen Journalistenschule.
Er trat engagiert für eine kritische Presse und eine liberal geprägte Demokratie ein und hatte eine soziale Ader, die nicht nur dem Adventskalender zugutekam. Als Zirkusfreund gründete er mit dem Circus Krone die Veranstaltung „Stars in der Manege“; der Erlös kam bedürftigen alten Menschen zugute.
Eine der ersten Reporterinnen, die für den Adventskalender ausrückten, war Anneliese Schuller. „Es war anrührend, aufregend und anstrengend zugleich“, notierte sie später. Als die Hilfsgüter eintrafen, in den Räumen der Redaktion in der Münchner Innenstadt zunächst, „glich die Lokalredaktion einem Warenhaus“.
Anneliese Schuller war damals Volontärin und gerade erst mit der Schule fertig, doch Werner Friedmann traute der jungen Kollegin - die einzige Frau in der elfköpfigen Lokalredaktion - viel zu. Zuvor hatte sie bereits Annelore Ehard, die Ehefrau des bayerischen Ministerpräsidenten Hans Ehard, interviewen dürfen, um, so ihr Auftrag, „die Zeitung auch mit Weiblichem zu füllen“, wie sich die Journalistin später erinnerte. Aus Schuller wurde später eine Friedmann. Ihr einstiger Chef wurde ihr Ehemann und sie Herausgeberin der Abendzeitung.
Die SZ-Lokalredaktion begann zur Jahreswende 1948/49, Kleider, Lebensmittel und Geld für die vielen durch Krieg und Vertreibung in Armut geratenen Menschen zu sammeln. Der gebürtige Münchner Bernhard Pollak war 1948 gerade Lokalchef geworden; er blieb es bis 1970. Pollak gab dem Hilfswerk den prägenden Namen „Adventskalender für gute Werke“.
Die Idee dahinter beschrieb er - in einem heute altmodisch anmutenden Stil - so: „Von heute an werden wir täglich ein Beispiel der besonderen Not innerhalb der Mauern Münchens bringen. Vielleicht wird ein Adventskalender daraus, dessen Fenster durch gute Taten erhellt werden.“ So kam es dann auch. Und auch dieser Satz von Pollak, der 1992 im Alter von 82 Jahren starb, trifft bis heute zu: „Die täglichen Überraschungen, die dieser Adventskalender bringt, sind nicht lieblich rührend, sondern erschütternd; denn sie zeigen Bilder tiefster menschlicher Not.“
Ein außergewöhnlicher Mensch mit so viel Ideen und einer so großen Beharrlichkeit, dass die, die um ihn herum waren, mit seinem Tempo manchmal kaum Schritt halten konnten, war auch Christian Krügel. Viele versuchten das Schritthalten trotzdem gerne, denn Krügels Schaffenskraft war gepaart mit Herzlichkeit und einer Zuneigung zu Menschen. Das spürte sein Team Christian Krügel war von 2010 bis zu seinem frühen Tod 2018 Ressortchef des Lokalen und der Region und dabei die „Seele des Ladens“, wie ihn der frühere SZ-Chefredakteur Kurt Kister würdigte. Das spürten die, die er über den Umweg des Adventskalenders zusammenbrachte, dessen stellvertretender Vorsitzender er war: jene Menschen, die in der Stadt und im Umland auf Hilfe angewiesen waren und jene, die Hilfe leisten wollten. Als studierter Historiker, Klassik-Fan und Christ hatte Krügel ein Netz von Unterstützern gespannt: von der Katholischen Akademie über das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks hin zu Bürgermeistern, Landräten, Wirtschaftsleuten.
Die gute Tat braucht Aufmerksamkeit, um Nachahmer zu finden, das wusste Krügel. Auf seine Initiative hin gibt das BR-Symphonieorchester bis heute Benefizkonzerte für den Verein. Es entstand die Aktion „Musik für alle Kinder“, die speziell Kinder aus Haushalten mit geringem Einkommen bei der Anschaffung von Instrumenten und der Übernahme von Kosten für den Musikunterricht unterstützt.
Der Adventskalender trägt soziale Fragen in die Politik
Was ihn antrieb?„Die Armut im reichen München oder die oft schäbige Unterbringung von Flüchtlingen“, schrieb SZ-Chefredakteur Wolfgang Krach im Nachruf auf Christian Krügel, „verletzte sein Gefühl von Gerechtigkeit und Mitmenschlichkeit, und auch deshalb hatten diese Themen im Lokalteil ihren Platz“ - und werden weiter ihren Platz haben.
Sein Münchner Orchester hat Mariss Jansons geliebt. „Ich muss nur das Feuer mit dem Streichholz anzünden, und sie machen daraus ein großes Feuer“, lobte der Maestro, von 2003 bis 2019 Chefdirigent des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks, die Musiker einmal in einem Interview auf die Frage, wie man sich gegenseitig inspiriert. Einen solchen Sparringspartner hatte Jansons auch in Christian Krügel gefunden. Auf dieser Basis entstanden Kooperationen zwischen dem Adventskalender und dem Orchester, die bis heute Bestand haben. Beide einte eine Hartnäckigkeit, wenn es um die Durchsetzung ihrer Visionen ging. Ein Wunsch, der Bau eines neuen Konzertsaals in München, blieb für beide aber ein unverwirklichter Lebenstraum.
Jansons, so urteilte der SZ-Redakteur Egbert Tholl in einem Nachruf auf den 2019 Verstorbenen, sei es „immer auch um mehr als die Musik“ gegangen. „Für die verzehrte er sich ohnehin. Aber Zukunft war für ihn auch soziales Engagement, waren die Benefizkonzerte für den SZ-Adventskalender, waren Auftritte wie die zusammen mit der Geigerin Anne-Sophie Mutter auf einem Spielplatz“ bei „Lichtblick Hasenbergl“, einer Betreuungseinrichtung für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die mit einer breit angelegten Förderung Begleitung vom Krippenalter bis ins Berufsleben bietet. „Jansons wusste trotz seiner allergrößten Bescheidenheit, dass er eine Strahlkraft und eine Bedeutung hatte, mit der er etwas bewirken konnte. Das wollte er auch.“
Würde sie noch leben, Karin Friedrich wäre sicher in vorderster Reihe dabei bei den Protesten dieser Tage gegen Rechtsextremismus im Land. Mit einem Plakat in der Hand vielleicht, „Ü60 gegen Nazis“ - sie hatte ja Übung darin, achtsam zu sein. Schon als junge Frau war sie mit ihrer Mutter, der Journalistin Ruth Andreas-Friedrich, in der Berliner Widerstandsgruppe „Onkel Emil“ aktiv. Sie half, Flugblätter zu verteilen, als die Hinrichtung der Geschwister Scholl bekannt wurde. Der Kreis von Rettern kümmerte sich um Untergetauchte, versteckte Verfolgte, fälschte Papiere, um für sie an Essensmarken zu kommen. Ein lebensgefährliches Engagement.
Die SZ hat von der Beharrlichkeit und dem Mut der 2015 Verstorbenen in vielerlei Hinsicht profitiert: Sie hatte in Friedrich, die 39 Jahre lang als Redakteurin tätig war, eine Sozialreporterin gefunden, die sich mit Ungerechtigkeit und Gleichgültigkeit nicht abfinden wollte.
„Es ist peinlich, arm zu sein, solange es als persönliches Verdienst gilt, all jene Attribute zu besitzen, die den modernen Wohlstand je nach Mode auszumachen pflegen. Also versucht man, seine Armut zu verbergen“, schrieb Friedrich 1968 zum 20-jährigen Bestehen des Adventskalenders. „Reich sein ist nicht immer ein Verdienst. Arm sein ist nicht selten Schicksal.“ Ihr Engagement war nicht nur beim SZ-Adventskalender zu spüren. Friedrich organisierte Ausstellungen, sprach in Schulen, war aktiv in der Weiße-Rose-Stiftung und warnte vor jenen, die damals als die neuen Rechten galten. „Wir haben den Brandstiftern schon viel zu viel Spielraum gelassen“, sagte sie in einem SZ-Interview 2005. Im Jahr zuvor war sie von der Gedenkstätte Yad Vashem in Israel als Gerechte unter den Völkern geehrt worden.
Eine Vita wie von Franz Freisleder gibt es heute nur noch selten bei Zeitungen: freier Mitarbeiter mit 24 Jahren, zunächst im Sport, dann Redakteur im München-Teil, Lokalreporter, stellvertretender Leiter des Lokalteils, schließlich, von 1970 an, Ressortchef dort - bis zur Pensionierung 1996. Eine Lebensaufgabe also, die Franz Freisleder zugewachsen war, bei seiner „Traumzeitung“, wie er einmal sagte, als Schüler ihn interviewten. Einen Lokalteil zu managen, dafür müsse man auch immer wieder „Trambahn fahren, ein Wirtshaus besuchen, beim Metzger einkaufen“. Also: Ohren und Augen auf, nicht nur dort, wo das Geld und die Macht sind. Als seine Aufgabe verstand er es, die damals noch präsente, wertkonservativ-christliche Bürgerschaft zusammenzubringen mit jenen, denen es nicht so gut ging. Für die Spendenaufrufe räumte Freisleder immer mehr Platz frei und widmete ihnen an den Adventssamstagen schließlich die komplette erste Seite des Münchner Lokalteils - damit die Nöte der Menschen ihren Weg fänden in die Herzen die Leserschaft.
Wichtig sei ihr immer gewesen, die Lebensumstände von Menschen zu beschreiben, mit denen das Schicksal es „wie und warum auch immer nicht gut meint“, erinnert sich Heidrun Graupner. Sie berichtete über diese Menschen im Lokalteil von 1977 bis 1986, auch für den Adventskalender, später dann in der Innenpolitik. Immer kenntnisreich und mit viel Herzblut.
„Als ich begann, den Adventskalender zu planen, gab es Gott sei Dank keine Sachspenden mehr. Das gespendete Geld konnte sehr viel helfen, aber ebenso wollte ich den Lesern mit den Reportagen begreifbar machen, wie sich das Leben manchmal in wenigen Stunden verändern kann, wie die Gemeinschaft und wie die Politik soziale Verhältnisse verbessern könnten, nach einem Unglück, in einer Krankheit, nach einer langen Flucht.“ Den Lesern verständlich zu machen, dass auch die Kinder von Migranten Hilfe benötigen, sei damals schwierig gewesen.
Auch das Thema Pflege habe in der Gesellschaft noch nicht den Stellenwert gehabt, der ihm hätte zustehen müssen. „Ich habe über Kinder geschrieben, die ihre kranken Mütter oder Väter pflegten, über unerträgliche Situationen. Vielleicht hat auch die lange Geschichte des Adventskalenders dazu beigetragen, solche sozialen Fragen in die Politik zu tragen.“
Ein Vierteljahrhundert, von 1964 bis 1989, zeichnete der in Westpreußen geborene Herbert Wachholz verantwortlich für die Organisation der Spendenaktion, eine Aufgabe, die er ebenso akkurat wie mit Herzblut auf die Beine stellte. Lange bevor von Integration, Inklusion und Teilhabe die Rede war, holte er die „Schützlinge“ des Adventskalenders für Ausflüge mit Bewirtung zusammen. Die Aktion habe ihm „tiefe Einblicke in menschliche Schicksale vermittelt“, er sei glücklich darüber, „dass wir mithilfe von SZ-Leser-Spenden so vielen helfen, so viel Leid lindern konnten“, bekannte er später. Für seine Arbeit erhielt Wachholz, der 1999 im Alter von 81 Jahren starb, mehrere Auszeichnungen, darunter das Bundesverdienstkreuz und „München leuchtet“. Ohnehin war er überzeugt davon: „Helfen ist doch das Schönste auf der Welt.“
Wachholz bescheinigte der gebürtigen Frankfurterin Renate Wehrhahn die „fachlichen und menschlichen Qualifikationen“, um 1989 seine Nachfolgerin als Adventskalender-Geschäftsführerin zu werden. Empfindsam bleiben für die Not anderer, dabei aber auch sich den Blick zu bewahren, wo das Geld der Spenderinnen und Spender sinnvoll einzusetzen ist, prägte ihr Handeln. Ihr ausgeprägter Gerechtigkeitssinn ließ sie aber nie die Menschen übersehen, die nicht laut um Hilfe riefen.
Hartz IV, Flucht, Corona: Unbürokratische Hilfe ist immer wieder nötig
Als Nachfolgerin von Renate Wehrhahn übernahm Claudia Strasser die Geschäftsführung 2003. Stets hatte sie ein offenes Ohr für die Nöte ihrer Mitmenschen in der unmittelbaren Nachbarschaft. In ihre zehnjährige Amtszeit fiel die Reform des Arbeitslosengeldes, Hartz IV, wodurch sich die Notlagen verschärften, wie eine steigende Zahl von Anträgen auf Einzelfallhilfen zeigte. Auf ihre Initiative geht die Gründung der Stiftung der SZ-Leserinnen und SZ-Leser zurück. „Claudia Strasser hat den Adventskalender ausgebaut, sie hat ihn leuchten lassen“, sagte der damalige Stiftungs-Vorsitzende Heribert Prantl zu ihrem Abschied in den Ruhestand 2013. In der Weltstadt mit Herz sei sie „das Herz dieses Herzens“ gewesen.
„Es ist nicht mein Geld, ich verwalte es nur“, betonte Anita Niedermeier, die von 2013 bis 2023 als Geschäftsführerin des Adventskalenders wie eine Treuhänderin darüber wachte, dass das Geld dorthin ging, wo es am meisten gebraucht wurde. Sie habe „die versteckte Not erlebt, die es in unserer so reichen Stadt an so vielen Stellen gibt“, bescheinigte ihr Adventskalender-Vorstand Karl Ulrich zum Abschied, und sich mit der Not auseinandergesetzt. „Mitfühlend und warmherzig“, aber auch genau und streng sei Anita Niedermeier gewesen, charakterisierte sie der ehemalige Adventskalender-Vize Hendrik Munsberg. Schnelle, unbürokratische Hilfe auf den Weg brachte sie sowohl in der Zeit, als viele Geflüchtete in München ankamen, während der Corona-Pandemie und als nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine viele Menschen von dort flüchten mussten.
Seit vielen Jahren schon engagiert sich der Schauspieler Rufus Beck bei den Familienkonzerten des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks zugunsten des SZ-Adventskalenders. Der begnadete Erzähler, zudem ein schauspielerisches Multitalent, fesselt die Aufmerksamkeit von Kindern und Erwachsenen, bringt den Saal zum Toben. Die Konzerte verfolgen Groß und Klein gleichermaßen gespannt und begeistert - da Rufus Beck, wie SZ-Redakteurin Nicole Graner schrieb, „seine Stimme selbst auch als ein Instrument bezeichnen könnte, weil er Geschichten so erzählt, als wären sie ein lebendiges Buch“.
Von Sven Loerzer und Monika Maier-Albang
Erschienen im Tagesspiegel am 23.02.2024