Der wirtschaftliche Schaden ist enorm: Derzeit können rund 209.200 MINT-Arbeitsplätze nicht besetzt werden. Davon entfallen rund 109.100 auf die MINT-Facharbeiterberufe, gefolgt von rund 77.700 fehlenden Fachleuten im Segment der sogenannten MINT-Expertenberufe (Akademiker) sowie rund 22.300 im Bereich der Spezialistenbeziehungsweise Meister- und Technikerberufe. Die größten Engpässe gibt es in den Energie-/Elektroberufen mit rund 68.600 offenen Stellen, in den Berufen der Maschinen- und Fahrzeugtechnik mit rund 41.500, in den Bauberufen mit rund 30.800, in den Berufen der Metallverarbeitung mit rund 30.300 und in den IT-Berufen mit rund 18.700 nicht besetzten Stellen. Diese Zahlen hat das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) in seinem kürzlich erschienenen MINT-Report veröffentlicht. Die Studie erscheint zweimal jährlich im Auftrag der Mitglieder des „Nationalen MINT Forums“, der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall und der Initiative„MINT Zukunft schaffen“.
Fachkräfteengpässe hemmen Digitalisierung und Energiewende

Die Autoren zeigen, dass Branchen mit einem großen Anteil an Erwerbstätigen mit MINT-Qualifikation zugleich viel in Innovationen investieren. Das gilt dem MINT-Report zufolge besonders für die M+E-Industrie (Metall- und Elektroindustrie). Hier haben in den diversen Branchen 55 bis 68 Prozent der Erwerbstätigen eine MINT-Qualifikation. Die Schlussfolgerung könnte sein: Die deutsche M+E-Industrie investierte 2023 rund 74 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung. Das sind deutlich mehr als die Hälfte der gesamtwirtschaftlichen Innovationsaufwendungen Deutschlands.
Damit diese Innovationen für die Herausforderungen der Zukunft weiter wachsen können, sind gut ausgebildete Personen mit MINT-Qualifikationen essenziell, heißt es im MINT-Report. Demnach gehören Fachkräfteengpässe zu den wichtigsten Hemmnissen bei Innovationsvorhaben. Eine aktuelle Befragung des IWs zeigt zudem, dass bei 44 Prozent der Unternehmen Fachkräfteengpässe die Digitalisierung im Unternehmen bremsen, 29 Prozent werden durch Fachkräfteengpässe bei Klimaschutz und Energiewende gehemmt, 27 Prozent beim Umgang mit geopolitischen Risiken. Das heißt: Vor allem MINT-Fachleute sind für das Gelingen der Transformation von großer Bedeutung.
„Deutschlands Innovationskraft droht in den kommenden Jahren durch einen Mangel an MINT-Fachkräften deutlich zu sinken“, sagt Professor Axel Plünnecke, Leiter der Studie und des Themenclusters Bildung, Innovation und Migration am Institut der deutschen Wirtschaft. Das künftige Angebot an MINT-Fachkräften wird durch die demografische Entwicklung und zugleich - laut PISA-Studie - durch sinkende MINT-Kompetenzen der in den Arbeitsmarkt nachrückenden Jahrgänge belastet. Länder wie Japan oder Korea weisen deutlich bessere und stabilere MINT-Kompetenzen auf oder haben - wie die USA, Frankreich, Dänemark und Schweden - eine deutlich günstigere demografische Ausgangslage.
Der MINT-Report schlägt zur Verbesserung der durchaus prekären Situation eine „Allianz aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft“ vor, „um entlang der gesamten Bildungskette die MINT-Bildung zu stärken und damit der MINT-Fachkräftelücke entgegenzusteuern“.
„Potenziale der Zuwanderung erschließen“
Dazu gehören: Durch eine klischeefreie Berufs- und Studienorientierung, weibliche Role Models und Mentoringprogramme mehr junge Frauen für MINT zu gewinnen und Potenziale der Älteren zu aktivieren. Denn die Transformation erfordere eine zunehmende Weiterbildung von MINT-Kräften. In diesem Zusammenhang sollten Hochschulen ihre berufsbegleitenden Studiengänge ausweiten und mehr Angebote zur akademischen Weiterbildung machen. Zudem sollte der Gesetzgeber die Rahmenbedingungen für einen späteren Renteneintritt verbessern, um MINT-Fachkräfte länger im Arbeitsleben zu halten. Ein weiterer wichtiger Schritt: „Potenziale der Zuwanderung erschließen“: Die Chancen und Möglichkeiten des neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetzes sollten durch schnellere Verwaltungsabläufe besser genutzt werden. Besonders attraktiv ist ferner die Zuwanderung über die Hochschule, da ein hoher Anteil der Absolventinnen und Absolventen aus demografiestarken Drittstaaten stammt und in akademischen MINT-Berufen arbeitet. Zudem gelte es, die Chancen im Bildungssystem zu verbessern. Daher sollten die frühkindliche Bildung gestärkt, hochwertige Ganztagsangebote ausgebaut, Sprach- und Leseförderung intensiviert und zusätzliche, über einen Sozialindex differenzierte Mittel zur individuellen Förderung von Kindern und Jugendlichen zur Verfügung gestellt werden.
Das Startchancen-Programm sollte evaluiert, und erfolgreiche Modelle sollten auf weitere Schulen ausgeweitet werden. Ein weiterer Punkt betrifft die digitale MINT-Bildung. Sie sollte in der Lehrkräfteaus- und -weiterbildung gestärkt werden, digitale Lehrangebote sollten weiterentwickelt werden. Digitale Medienbildung sollte bereits in der Vorschule und das Fach Informatik sollte ab der Primarstufe eingeführt werden. Die digitale Mündigkeit, insbesondere im Hinblick auf die Auswirkungen eines übermäßigen privaten Medienkonsums, sollte gestärkt werden.
Geradezu unverzichtbar sind für die MINT-Report-Autoren weitere Forderungen: „Ferner sind zur Stärkung der MINT-Bildung Maßnahmen entlang der gesamten Bildungskette zu entwickeln und außerschulische Angebote zu stärken. Die Motivation zum Mathematikunterricht und die Lernatmosphären sind zu verbessern. Zur Sicherung der Qualität des Unterrichts an Schulen ist die Verfügbarkeit von gut ausgebildeten Lehrkräften sicherzustellen. Zur Unterstützung der Lehrkräfte, etwa auch zum erfolgreichen Voranbringen digitaler Konzepte, sollten multiprofessionelle Teams ausgebaut werden.“ Forderungen, die nicht neu sind, aber bislang nur ansatzweise umgesetzt werden.
Dorothea Friedrich
Erschienen im Tagesspiegel am 23.11.2024