Es wirkt nicht gerade beruhigend, wenn Lösungen zur Rettung unseres Planeten unter der Überschrift „Utopien“ zu finden sind. Selbst wenn man sie unter „Zukunftsvisionen“ fände, bliebe es ein Paradoxon, denn die Zukunft wird es wohl kaum geben, wenn wir die längst bekannten Lösungen nicht sofort umsetzen. Getröstet wird man vom Pariser Architektur- und Stadtplanungsbüro XTU Architects, das 2000 von Nicolas Desmazières und Anouk Legendre gegründet wurde, um den Anforderungen angesichts des Klimawandels die Stirn zu bieten. Will man die Entwürfe des Büros bewerten, sind herkömmliche Kriterien für den höchst innovativen Ansatz weitgehend unzureichend. XTU konzipiert keine Bauwerke sondern Lebensräume, die von Strategien und Prozessen des Lebens an sich abgeleitet sind. Es wird stets versucht, das Gleichgewicht zwischen Mensch und freier Natur herzustellen, wobei die Bedürfnisse beider gleichermaßen Berücksichtigung finden.
Das bedeutet folglich, dass die Aspekte der Ästhetik um gänzlich neue Ansätze erweitert werden müssen und mit rein konstruktiven Begriffen nicht mehr beschrieben werden können. Bei den Utopien des Büros wird es noch spannender, denn der gewählte Ansatz verlangt eine radikale Anpassung an die gegebene Umgebung. Und mit ihren Utopien wagen sich die Architekten und Stadtplaner in Regionen vor, die bis dato für europäische Baumeister selten relevant waren. Etwa auf ehemalige Bohrinseln im hoffentlich bald erreichten postfossilen Zeitalter, oder in die Wüste, aber auch in bis dato von Bebauung verschonte Wildnis. Wobei letzteres nicht im Sinne der Zerstörung der wenigen verbleibenden unberührten Lebensräumen, sondern als Beweis dafür, dass auch dort mit behutsamen ökologischen Eingriffen ein Leben möglich wäre, ohne die Natur zu zerstören.
Vielmehr geht es darum, den Lebensraum des Menschen ins gegebene Ökosystem nahtlos so einzubinden, dass eine Koexistenz ohne Abstriche im Naturschutz realisierbar wird. Im Grunde bezieht sich der Begriff „Utopie“ bei XTU-Architects weniger auf derartige Gestaltung der Lebensräume als vielmehr auf die Akzeptanz durch die Auftraggeber und vielleicht auch künftigen Bewohner. Nicht nur wegen der futuristischen Anmutung der Objekte, sondern weil sie neue Lebensweisen verlangen. Der Mensch ist ein extremes Gewohnheitstier, das nur bedingt bereit ist, seine Gewohnheiten aufzugeben bzw. sich in neue Gegebenheiten zu assimilieren. Das bleibt das größte Dilemma. Eine spannende Idee hatten die XTU-Architekten mit Flohara für die südmarokkanische Wüstenregion, vorgestellt bei der Architekturbiennale in Venedig. Das Quasi-Bauwerk erinnert an Zweige einer Seetang-Art. Die offenen Enden dieser vegetabilen Form bieten windgeschützte Schattenräume. In der Tiefe der Verästelung finden sich Wasser- und Nährstoffkreisläufe. Konstante Temperaturen erlauben Anbau von Mikroalgen, Gemüse und Pilzen.
Das nötige Licht wird über spezielle Kanäle in die Tiefe geleitet. Wasser wie Luft werden recycelt, sodass dort Menschen einen schützenden Lebensraum vorfinden, wenn die Wüste heiß, stürmisch und sonst wie feindlich ist. Einer ähnlichen Aufgabe stellt sich Agri-Tecture, die das ökologische Prinzip mit traditionellen Bauwerken unter Verwendung regionaler Baumaterialien aus der Natur umsetzt. Mit einer derart autarken Selbstversorgung ist es auch möglich, Städte auf offener See zu errichten. Sea Ty ist eine solche künstliche Insel. Wind und Wasserströmungen erzeugen die Energie, die für Recyclinganlagen, Nahrungserzeugung, Beleuchtung etc. nötig ist. Pflanzenhüllen der Gebäude sorgen dafür, dass emittiertes CO2 über Fotosynthese verarbeitet wird. XTU Architects stellen sich auch der sinnvollen Verwertung von Altlasten wie etwa Bohrinseln im Meer. Auch hier in der Rigs City oder in X_Land sind ökologische Kreisläufe angelegt. Für die Offshore-Plattformen in der Nordsse des Projekts X_Land planten XTU Architects Membranblasen, in denen ein mildes Klima erzeugt wird und Pflanzen deshalb besser gedeihen. REINHARD PALMER
Erschienen im Tagesspiegel am 11.02.2024