Leos linke Hand will oft nicht so, wie er will. Das war nicht immer so. Aber L eigentlich kann sich Leo kaum noch an die Zeit erinnern, als er noch keine spastische Bewegungsstörung hatte. Typisch für eine Spastik ist eine erhöhte Muskelspannung, die von dem Betroffenen nicht kontrolliert werden kann. Das ist lästig, vor allem für einen zehnjährigen Jungen, der leidenschaftlich gern Fußball spielt, aber auf gar keinen Fall Hilfe beim Anziehen des Trikots bekommen möchte. Immerhin: Dank Ergo- und Physiotherapie und dank der Handorthese, die Leo nachts zur Stabilisierung der verkrampften Muskeln trägt (und zu der er immer mal wieder von seinen Eltern überredet werden muss), kommt es inzwischen nur noch selten vor, dass Leo beim An- und Auskleiden Unterstützung benötigt.

Leos Handicap ist die Folge eines Schlaganfalls. Eines Schlaganfalls im Kindesalter. Die Symptome hatten sich nicht angekündigt, sondern waren plötzlich einfach da - und das zwei Wochen vor seinem sechsten Geburtstag. Damit gehört Leo zu einer Patientengruppe, die lange im Schatten der Medizin gestanden hat. Denn dass auch Kinder von einem Schlaganfall betroffen sein können, fand in der medizinischen Fachwelt bis vor Kurzem kaum Beachtung. Dabei ist ein Schlaganfall für die jungen Menschen (und ihre Familien) ein einschneidendes Ereignis, das ihren weiteren Lebensweg nachhaltig verändert und nicht selten gravierende Auswirkungen auf ihre weitere körperliche und geistige Entwicklung hat - bis hin zu bleibenden motorischen Störungen, Problemen beim Sprechen oder Schwierigkeiten beim Lesen, Schreiben oder Rechnen. „In Deutschland erleiden jedes Jahr 300 bis 500 Kinder einen Schlaganfall“, sagt Privatdozentin Dr. Lucia Gerstl, Oberärztin am Dr. von Haunerschen Kinderspital in München und Leiterin des Deutschen Netzwerks Pediatric Stroke, die sich zu diesem Thema an der LMU habilitiert hat. Damit gehört der kindliche Schlaganfall zu den seltenen Erkrankungen - „und genau das ist auch der Grund, weshalb er kaum im Bewusstsein ist“, erklärt die Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin mit Schwerpunkt Neuropädiatrie. Das gelte nicht nur für die Eltern, sondern auch für Ärzte, Rettungsmediziner oder in der Notaufnahme. Weil so selten, wird ein kindlicher Schlaganfall oft zu spät erkannt, eine optimale Akutversorgung ist dann kaum mehr möglich.
Ohne Vorwarnung
Dass beim kindlichen Schlaganfall oft wertvolle Zeit verloren geht, bis gehandelt wird, belegen Studien: Während bei den Erwachsenen die Behandlung nach einem ausgefeilten Protokoll folgt, das auf eine schnellstmögliche Versorgung innerhalb der ersten zwei bis drei Stunden ausgerichtet ist, dauert es bei einem Kind im Durchschnitt knapp 24 Stunden, bis überhaupt die Diagnose gestellt wird.„Dabei richtet ein Schlaganfall im kindlichen Gehirn genauso viel Schaden an wie im Gehirn eines Erwachsenen. Deshalb gilt auch für Kinder: Time is brain - Zeit ist Gehirn.“ Das bedeutet: „Je schneller die Behandlung einsetzt, desto geringer ist das Ausmaß der bleibenden Schäden“, betont Lucia Gerstl. Die Folgen einer zeitverzögerten Therapie können erheblich sein: „Nur rund jedes dritte Kind erholt sich nach einem Schlaganfall vollständig, bei einem Großteil kommt es zu langfristigen neurologischen Beeinträchtigungen wie einer Halbseitenlähmung oder einer Epilepsie.“
Vorboten wie kurzzeitige neurologische Ausfallerscheinungen - bei Erwachsenen werden diese Alarmzeichen TIA (= transitorische ischämische Attacke) genannt - sind im Kindesalter sehr selten. Zum Wesen des Schlaganfalls gehört, dass er unvermittelt von einem Moment auf den anderen auftritt - egal, wie alt der Betroffene ist. Allen Altersgruppen ist zudem gemeinsam, dass ein Schlaganfall sowohl durch Blutungen im Gehirn (hämorrhagischer Schlaganfall) als auch durch den Verschluss einer Gehirnarterie (ischämischer Schlaganfall) ausgelöst werden kann. Ein hämorrhagischer Schlaganfall entsteht, wenn ein fehlgebildetes oder geschädigtes Blutgefäß reißt und das ausströmende Blut Hirngewebe verdrängt. Demgegenüber wird ein ischämischer Schlaganfall durch einen Gefäßverschluss, meist durch ein Blutgerinnsel, hervorgerufen, wodurch Gehirnareale von der Blutzufuhr abgeschnitten werden. Infolgedessen werden die Nervenzellen nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt und sterben innerhalb kurzer Zeit ab, wenn nicht rasch therapeutisch gehandelt wird.
Typische erste Anzeichen des kindlichen Schlaganfalls sind neurologische Ausfallerscheinungen wie die Lähmung einer Körperseite, Gesichtslähmungen oder plötzlich auftretende Sprachstörungen, ebenso sind Krampfanfälle möglich. Es können aber auch erst einmal unspezifische Beschwerden wie Übelkeit und starke Kopfschmerzen im Vordergrund stehen. Und dann kann es sogar sein, dass die Symptome nicht typisch, also nicht schlagartig auftreten, sondern sich allmählich über Minuten entwickeln. „Dieser ungewöhnliche Verlauf sollte jedoch nicht dazu führen, die Diagnose Schlaganfall von vornherein auszuschließen“, mahnt PD Dr. Gerstl. Beim hämorrhagischen Schlaganfall stehen stärkste Kopfschmerzen, Erbrechen und eine Bewusstseinsstörung im Vordergrund.
Für Eltern gilt: Wann immer sie solche plötzlichen Veränderungen an ihrem Kind bemerken, sollten sie sofort einen Notarzt alarmieren. Zumal das, was für Erwachsene gilt, leider auch auf Kinder zutrifft: Auch sie können an den Folgen eines Schlaganfalls versterben. Umso wichtiger ist es, wenn Diagnostik und Behandlung zeitnah erfolgen - idealerweise in einer Pediatric Stroke Unit. In deutschen Krankenhäusern heißen Abteilungen für die Behandlung von Schlaganfällen „Stroke Units“, sie sind jedoch in der Regel Erwachsenen vorbehalten. 2014 wurde in Deutschland die erste „Schlaganfalleinheit für Kinder“, die Pediatric Stroke Unit, im Dr. von Haunerschen Kinderspital in München eröffnet - ein Pilotprojekt, das vom Team um PD Dr. Gerstl und Professor Florian Heinen in Kooperation mit der Pädiatrischen Intensivmedizin, der Pädiatrischen Gerinnungsmedizin, der Neurologie sowie der Radiologie und Neuroradiologie des LMU Klinikums entwickelt wurde. In der Pediatric Stroke Unit steht rund um die Uhr ein spezialisiertes Team von Ärzten verschiedener Fachrichtungen auf Abruf, um die notwendigen Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren durchzuführen und dann umgehend eine angemessene Therapie einzuleiten. Bislang wurden mehr als 70 Kinder auf der Pediatric Stroke Unit und über 500 Kinder mit klinischem Verdacht auf Schlaganfall im Dr. von Haunerschen Kinderspital versorgt.
2015 gründeten die Ärzte das Deutsche Netzwerk „Pediatric Stroke“, dem sich inzwischen deutschlandweit mehr als 35 weitere (Universitäts-)Kinderkliniken und Rehabilitationskliniken sowie Vertreter aus Österreich, Schweiz und den Niederlanden angeschlossen haben. Derzeit erarbeitet das Netzwerk unter Federführung von PD Dr. Gerstl eine Leitlinie zu Diagnostik und Therapie des kindlichen Schlaganfalls. Zudem geht jetzt mit PRISMA ein von Lucia Gerstl geleitetes bundesweites Register für den kindlichen Schlaganfall an den Start.
Ein Grund ist, dass der Schlaganfall hierzulande immer noch primär als eine Krankheit des höheren Lebensalters wahrgenommen wird. An die Möglichkeit, dass auch Kinder einen Schlaganfall erleiden können, wird oft nicht gedacht. Hinzu kommt, dass es im Kindesalter sehr viel mehr Differenzialdiagnosen für Schlaganfallsymptome gibt als bei Erwachsenen. Bis alle infrage kommenden Auslöser abgeklärt wurden, kann wertvolle Zeit bis zur endgültigen Diagnosestellung und Behandlung verloren gehen. Einmal mehr: Kinder sind keine kleinen Erwachsenen.
Nicole Schaenzler
Erschienen im Tagesspiegel am 17.05.2024