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Leben im Alter: Individuell und einfühlsam

So lange wie möglich auch im hohen Alter selbstständig und eigenverantwortlich leben. Das ist das erklärte Ziel der Geriatrie. Um dies betagten und hochbetagten Menschen zu ermöglichen, sind Fachkräfte etlicher medizinischer und psychosozialer Richtungen in der interdisziplinären Betreuung gefragt. Foto: Adobe Stock

Forum Spitzenmedizin

Leben im Alter: Individuell und einfühlsam

Wirksame Altersmedizin ist interdisziplinär ausgerichtet und bezieht Angehörige ein

Lange zu leben, das wünschen sich wohl die meisten von uns. Alt werden wollen sie eher nicht. Aber: Altern beginnt bereits kurz nach dem Erwachsenwerden, Körper und Geist verändern sich ganz allmählich. Zuerst kaum merklich, ab Ende Dreißig jedoch spürbar: Die ersten Sehprobleme treten auf, die Knie schmerzen ab und zu (nicht nur nach dem Sport), im Rücken zwickt es, erste weiße Haare zeigen sich auf dem Kopf. Die Haut wird trockener und weniger elastisch, die Fältchen im Gesicht und am Körper werden markanter. Erste Hilfe: Kosmetika, Nahrungsergänzungsmittel, ein Sehtest im Optikergeschäft. Zur Ärztin? Blödsinn, ich doch nicht! Das geht für einige Zeit gut, doch so mit Ende Fünfzig haben sich manche Beschwerden manifestiert, leichte Mittel helfen nur noch kurzzeitig. Man macht sich also endlich auf in die Arztpraxis. Wo man mehr oder weniger indirekt zu hören bekommt, man werde eben älter.

Älter werden. Das kann als bereichernd empfunden werden (die Erfahrung, die Erlebnisse!), es kann Angst machen (Gesundheit, Einsamkeit, Pflegebedürftigkeit), es kann aber auch den Willen fördern, so früh wie möglich für ein gutes Altwerden zu sorgen. Eine bewusste Lebensweise gehört ebenso dazu wie die regelmäßige medizinische Kontrolle (Hausarzt, Zahnärztin, Augenarzt, HNO-Praxis). Und damit haben wir allmählich, doch noch mitten im Leben, das Gebiet der Geriatrie oder Altersmedizin erreicht.

Bis vor ein paar Jahrzehnten waren in den Augen der Medizin nahezu alle gleich: der junge Patient erhielt genau das verordnet wie die ältere Patientin; Geschlecht, Lebensumstände, Alter blieben unberücksichtigt. Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts begann sich etwas zu ändern. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definierte 1989 die Geriatrie als den Zweig der Medizin, der sich mit der „Gesundheit im Alter sowie den präventiven, klinischen, rehabilitativen und sozialen. Aspekten von Krankheiten beim älteren Menschen beschäftigt“. Bei der medizinischen Behandlung alternder Menschen wird seither auch deren Lebenssituation betrachtet: Wie groß ist die noch vorhandene körperliche Leistungsfähigkeit? Gibt es bereits Funktionseinschränkungen? Kommen bestimmte Erkrankungen hinzu, besteht die Gefahr, dass diese Menschen ihre Selbstständigkeit teilweise oder ganz verlieren und dauerhaft auf Pflege durch Dritte angewiesen sind.

Die Geriatrie ist aber nicht ganz so neu wie es den Anschein hat: Bereits vor mehr als hundert Jahren hat der Arzt Ignaz Leo Nascher (1863 bis 1944) die Bezeichnung analog zur Pädiatrie, der Kinderheilkunde, geprägt und sie erstmals in seinem 1914 veröffentlichten Lehrbuch „Geriatrics: The diseases of old age and their treatment“ verwendet. Die geriatrische Medizin befasst sich hauptsächlich mit den Erkrankungen, die typischerweise bei über 65-jährigen Menschen auftreten. Am meisten profitieren aber Patienten über 80 Jahre oder älter von einer altersmedizinischen Behandlung.

Sie sind oft sehr gebrechlich und leiden häufig an weiteren aktiven Krankheiten wie Grauer Star, Arthrose, Osteoporose, Demenz, Diabetes mellitus („Alterszucker“), Krebs, Altersdepression, Vorhofflimmern, Parkinson-Krankheit, chronische senile Rhinitis („Alterstropfnase“) oder einer Arteriosklerose mit ihren Folgen wie Herzinfarkt, Schlaganfall oder arterielle Verschlusskrankheit. Multimorbidität heißt der Fachbegriff dafür. Aufgrund sich unterscheidender Symptome sind diese im Alter auftretenden Krankheiten oft nicht leicht zu diagnostizieren. Die Patienten sprechen häufig nur verzögert auf eine Behandlung an und benötigen zugleich soziale Unterstützung. Das Hauptziel einer geriatrischen Behandlung ist es, die Körper- und Geistesfunktionen der älteren Patienten zu befördern, ihre Lebensqualität und Selbstständigkeit zu erhalten oder diese sogar zu verbessern.

Doch muss sich der betroffene alternde Mensch auch darauf einlassen. Gerne werden Symptome verdrängt („Das vergeht schon wieder“), der Besuch in der Arztpraxis wird aus Bequemlichkeit oder Angst vor möglichen Folgen immer wieder hinausgeschoben. Ein solches Verhalten kann schwerwiegende Folgen haben, dessen sind sich die Betroffenen oft nicht bewusst. Wie im Fall einer alleinlebenden Frau Mitte achtzig: Sie klagt immer wieder über Atemnot, Herzklopfen und gelegentliche Schwächeanfälle. Ihre Hausärztin bestellt sie in die Praxis, nimmt eine Blutprobe und lässt im Rahmen der Untersuchung auch ein Kurzzeit-EKG durchführen. Ergebnis: erhöhter Blutdruck, ungünstiger Cholesterinspiegel, erhöhte Zuckerwerte, Herzrhythmusstörungen. Beim Nachgespräch mit der Ärztin lehnt die Patientin die empfohlene Medikation ab und will sich auch nicht auf ein Langzeit-EKG einlassen. Sie hofft, dass es im Fall des Falles„dann eben schnell geht“. Zureden durch Verwandte und Freunde ignoriert sie, behält ihren gewohnten Lebensstil größtenteils bei. Immerhin ist ausreichend Bewegung vorhanden: Mehrmals am Tag läuft sie im Haus die Treppen auf und ab, arbeitet im Garten. Nur zum Einkaufen fährt sie mit ihrem Auto, weil das linke Knie wegen einer unbehandelten Arthrose schmerzt.

Innerhalb kurzer Zeit beginnt sich schließlich ihr Sehvermögen zu verschlechtern. Ursache: Makuladegeneration, eine altersbedingte Erkrankung der Netzhaut. Die Lektüre von Zeitung und Büchern fällt der alten Dame zunehmend schwer, das grämt sie ganz besonders. Schwächeanfälle, Atemnot und Herzklopfen treten wiederkehrend auf; sie geht mit rezeptfreien Herztropfen, die ihr vor Jahren verstorbener Ehemann bereits nahm, dagegen vor. Das hilft kurzzeitig, aber nicht auf Dauer. Ihre Kinder dringen darauf, sie solle sich gründlich untersuchen lassen, doch sie will nicht. Letztendlich erleidet die Frau einen Schlaganfall, von dem sie sich nicht mehr richtig erholt. Zwar kann sie körperlich wieder gut hergestellt werden, sie verliert aber einen Teil der Sprechfertigkeit und der Gedächtnisleistung, auch weil sie die empfohlene Logotherapie verweigert. Mittlerweile sind starke Depressionen dazugekommen, ihre Hausärztin weist sie deshalb zur Behandlung in eine psychiatrische Klinik ein. Nach einem mehrmonatigen Aufenthalt wird die alte Dame entlassen und muss aus ihrem Haus aus- und in ein Seniorenheim am Wohnort ihrer Kinder umziehen. Allein leben kann sie nun nicht mehr.

Hätte diese Geschichte auch anders verlaufen können? Was kann man tun, wenn der alte Mensch bei der vorgeschlagenen Behandlung nicht mitmachen will, sich nicht überzeugen lässt? Hier ist es wichtig, als An- und/oder Zugehörige in den Behandlungsprozess mit einbezogen zu werden. Meist kennt man den betroffenen alten Menschen ja gut, hat einen besonderen Zugang zu ihm und kann deshalb positiv auf ihn einwirken. Verfolgt man die Interaktion der unterschiedlichen Interessen (Patient, Ärztin, Angehörige) aufmerksam mit, kann man einiges für sich selbst lernen und dafür Sorge tragen, dass das eigene Altwerden ungefähr so verläuft, wie man es sich in jüngeren Jahren vielleicht einmal gewünscht hat.

Pauline Sammler

Ganzheitliche Sichtweise in der Geriatrie

Geriatrie oder Altersheilkunde sieht im besten Fall den älteren (ab dem 65. Lebensjahr) oder alten Menschen in seiner Gesamtheit, also altersbedingte Veränderungen, typische Altersprobleme sowie die unterschiedlichen, gleichzeitig behandlungsbedürftigen Erkrankungen und ihre Wechselwirkungen (Multimorbidität) - auch, was die medikamentöse Behandlung angeht. Wesentliches Ziel ist es, Selbstständigkeit und Lebensqualität zu erhalten sowie Komplikationen und/ oder Pflegebedürftigkeit zu vermeiden. Die Geriatrie setzt verschiedene wissenschaftlich überprüfte Testverfahren (Geriatrische Assessment-Tests) ein, um die Möglichkeiten von Selbstständigkeit oder Hilfsbedürftigkeit zu verifizieren. Expertinnen und Experten aus verschiedenen Berufsgruppen beurteilen, wie sich persönliche Stärken oder Funktionsdefizite auf die jeweiligen individuellen Lebensumstände auswirken. In Bayern gibt es bereits seit 2009 das Fachprogramm Akutgeriatrie, die geriatrische Rehabilitation sowie seit 2007 die Mobile geriatrische Rehabilitation (MoGeRe). Immer wichtiger wird die psychosoziale Betreuung alter Menschen, weshalb die intensive Zusammenarbeit von Medizinerinnen, Pflegekräften, verschiedenen Therapeuten, Psychologinnen und Sozialarbeitern erforderlich ist. dfr

Er­schie­nen im Ta­ges­spie­gel am 17.05.2024

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