Die Künstliche Intelligenz (KI) führt die Medizin gerade in eine neue, vielversprechende Ära. Mit einer deutlich verbesserten Diagnostik, einer zuverlässigeren Früherkennung von Krankheiten und einer gezielteren, personalisierten Behandlungsplanung revolutioniert KI die Art und Weise, wie Ärztinnen und Ärzte ihre Patienten versorgen. Die Technologie, noch vor wenigen Jahren Science-Fiction, ist nun zweifellos Realität – und prägt die nächste Zukunft der Medizin. Inmitten dieser Entwicklung stehen Ärzte, Forschende und Technologieexpertinnen vor der Herausforderung, das volle Potenzial von KI auszuschöpfen, um die Gesundheitsversorgung für alle zu verbessern. In Münchens renommierten Kliniken und Universitäten wird diese transformative Technologie bereits erfolgreich eingesetzt.
Der Grund, warum gerade die Medizin einer der Hauptprofiteure des KI-Booms ist, sind die Datenmassen, die dort anfallen. Die große Stärke der KI liegt in ihrer Fähigkeit, riesige Mengen von Patientendaten analysieren und Muster erkennen zu können, die für den Mediziner nicht ohne weiteres ersichtlich sind. Damit eröffnen sich neue und zuverlässigere Diagnosemöglichkeiten. Dank modernster Algorithmen und maschinellem Lernen können Bilder, wie beispielsweise MRT-Scans und Röntgenbilder, schneller und präziser ausgewertet werden als je zuvor. KI-basierte Technologien ermöglichen es damit Ärzten, potenziell lebensbedrohliche Krankheiten genauer zu erkennen – was die Behandlungschancen der Patienten erheblich verbessert.
Optimierte Diagnostik
Speziell entwickelte KI-Plattformen machen es heute möglich, radiologische Bilder effizient zu analysieren und potenzielle Anomalien zu identifizieren. In der Pathologie an der LMU werden beispielsweise KI-Algorithmen genutzt, um hauchdünne Gewebeschnitte – unverzichtbar bei der Krebsdiagnose – zu analysieren. Methoden des maschinellen Lernens erlauben es dann, Rückschlüsse auf bestimmte molekulare Eigenschaften eines Tumors zu ziehen und prognostisch relevante Faktoren zu identifizieren. Dr. Philipp Jurmeister und Professor Frederick Klauschen vom Pathologischen Institut der LMU sowie Professor David Capper von der Charité ist es beispielsweise gelungen, mit Hilfe eines KI-Tools die Krebsdiagnostik entscheidend zu verbessern. Das Werkzeug unterscheidet Tumore sehr zuverlässig auf der Basis chemischer DNA-Modifikationen – anders als herkömmliche Methoden. Dies könnte auch neue Möglichkeiten für zielgerichtete Therapien eröffnen. KI-gestützte Diagnostik findet sich inzwischen nicht nur in den Forschungslaboratorien, sondern hat bereits Einzug in die Praxis gefunden. Bestes Beispiel ist die Dermatologie, in der die KI Hautveränderungen oft besser erkennt als der Mensch. Im Haut- und Laserzentrum von Professor Gerd Gauglitz wird beispielsweise die Hautoberfläche von Patienten von Kopf bis Fuß von einer vollautomatischen Kamera fotografiert, die Daten werden anschließend von einer KI-Software analysiert. Neue und veränderte Läsionen werden automatisch markiert und auf einen Blick sichtbar. Die Software hat in verschiedenen klinischen Studien ihre diagnostische Überlegenheit auch im Vergleich mit erfahrenen Dermatologen bewiesen. Ganz generell zeigen viele Studien, dass eine mittels KI vorgenommene Klassifizierung der ärztlichen Befundung ebenbürtig – oft sogar besser – ist als die von menschlichen Experten.
Personalisierte Therapie
Die intelligente Auswertung von Patientendaten kann auch die Therapie verbessern und die personalisierte Medizin auf ein neues Level heben. Durch die Analyse großer Datensätze erkennen KI-Algorithmen Muster, die darauf hinweisen, welche Behandlungen für bestimmte Personen am effektivsten sind. Indem die KI individuelle genetische Profile, Krankengeschichten und Lebensstilfaktoren berücksichtigt, lassen sich maßgeschneiderte Therapiepläne erstellen, die nicht nur die Erfolgsaussichten verbessern, sondern auch Nebenwirkungen reduzieren. Im neuen Zentrum für Personalisierte Medizin für Onkologie am Universitätsklinikum rechts der Isar erhalten zum Beispiel Krebspatienten eine maßgeschneiderte Diagnostik und Therapie. Durch die Analyse der Patientendaten, der genetischen Informationen und der Behandlungsergebnisse vergangener Fälle kann die KI präzise Vorhersagen über die Wirksamkeit verschiedener Therapien treffen – und so gezieltere Behandlungsstrategien als mit herkömmlichen Mitteln ausarbeiten.

Robotik im OP-Saal
Auch neue Medikamente und Therapien lassen sich mit KI-Unterstützung schneller und effizienter entwickeln. Durch die Analyse großer Datenmengen können KI-Systeme potenzielle Wirkstoffe identifizieren, die für die Behandlung bestimmter Krankheiten relevant sein könnten. Diese computergestützten Ansätze beschleunigen den Prozess der Arzneimittelentwicklung und bringen Hoffnung auf bessere Therapien für eine Vielzahl von Erkrankungen. Um etwa gezielt Medikamente gegen resistente Bakterien zu entdecken, ist es wichtig, neue synthetische Wirkstoffe zu finden. Dafür müsste man eine riesige Menge von Molekülen testen. KI und maschinelles Lernen können helfen, die Moleküle in sehr kurzer Zeit zu untersuchen und damit neue Medikamente schnell auf den Markt zu bringen. Neben der „klassischen“ KI spielt in der Medizin auch die sogenannte Embodied KI eine immer größere Rolle. Gemeint ist damit die Verschmelzung von Machine Learning und Robotik. Im OP-Bereich übernehmen Roboter schon länger wichtige Funktionen und unterstützen den Operateur. In den chirurgischen Disziplinen wird die Robotik häufig mit KI und Virtual Reality kombiniert und als ergänzende Technik eingesetzt. Hier greifen die neuen Technologien Ärzten bei der virtuellen Operationsplanung, der Einschätzung von Risiken durch Algorithmen, der robotergestützten Chirurgie oder beim Training von chirurgischen Eingriffen unter die Arme.
Bei allem Fortschritt, den die KI in die Medizin bringt, birgt ihre Nutzung auch ethische Herausforderungen. Für die maschinellen Lernmodelle brauchen KI-Systeme große Datenmengen – im Medizinbereich sind das oft hochkritische Gesundheitsdaten von Patienten. Damit diese vertraulich bleiben und nicht kompromittiert werden, müssen sie streng geschützt werden – doch wer garantiert dafür? Ein weiteres ethisches Dilemma betrifft die Verantwortlichkeit und Haftung im Fall von Fehldiagnosen oder fehlerhaften Entscheidungen, die auch von KI-Systemen getroffen werden können. Es ist daher unerlässlich, klare Richtlinien und Verfahren zur Überprüfung und Validierung von KI-Systemen zu etablieren, um das Risiko von Fehlern zu minimieren und die Haftung im Falle von Komplikationen zu klären.
Der Informatiker Daniel Rückert, Humboldt-Professor für KI in der Medizin an der Technischen Universität München, arbeitet an solchen Fragestellungen. Er ist überzeugt, dass automatische KI-Systeme ähnlich vertrauenswürdig sein sollten wie ein menschlicher Arzt – wenn sie in die Medizin integriert und von Ärzten und Patienten akzeptiert werden sollen. Solche „vertrauenswürdigen KI-Systeme“ gehen mit der Privatsphäre sorgfältig um und speichern keine identifizierbaren persönlichen Daten ab. Sie sind fair und behandeln beispielsweise Männer nicht anders als Frauen. Und sie geben an, wie sicher die Entscheidungen des Systems sind – etwa bei positiven oder negativen Diagnosen. Es müssen also Richtlinien und Standards etabliert werden, die die Integration von KI in die Medizin sicher, gerecht und verantwortungsvoll gestalten.
Klaus Manhart
Erschienen im Tagesspiegel am 17.05.2024