Es ist zu erwarten, dass in den kommenden (Wahlkampf-)Wochen das Thema Migration weiterhin eine große Rolle spielen wird, neben Krieg und Frieden, den Popularitätswerten von Spitzenpolitikern und den Koalitionsoptionen nach der Bundestagswahl. Ein guter Zeitpunkt also, um den OECD-Bericht zum Stand der Immigration in Deutschland vom vergangenen Juli in die Hand zu nehmen und sich die Abschnitte zur Bildung genauer anzuschauen.
Der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) beschreibt die Situation von eingewanderten Kindern und Jugendlichen an deutschen Schulen differenziert. Zum einen stellte das Autorinnen- und Autorenteam fest, dass die schulischen Leistungen von eingewanderten Kindern und Jugendlichen oft hinter denen von Kindern deutscher Eltern zurückbleiben. Besonders betroffen sind Kinder, deren Eltern ebenfalls eingewandert sind. Andererseits schnitten im Inland geborene Kinder von Eingewanderten beim PISA-Test in Deutschland besser ab als in den meisten anderen europäischen Zielländern - das klingt nach dem sprichwörtlichen Einäugigen, dem König unter den Blinden. Zumal, wenn man sich die Zahlen genauer anschaut: Eingewanderte Schülerinnen und Schüler schneiden in Bereichen wie Lesekompetenz und Mathematik im Durchschnitt um mehr als 100 Punkte (was in etwa den Lernfortschritten von mehreren Schuljahren entspricht) schlechter ab als Schülerinnen und Schülern mit im Inland geborenen Eltern.„Etwa drei Fünftel der eingewanderten Schüler*innen erreichen das Basisniveau der Lesekompetenz nicht, verglichen mit einem Sechstel der in Deutschland geborenen Schüler*innen im Inland geborener Eltern“, heißt es wörtlich.
Doch tatsächlich stellt der jetzige Stand einen echten Fortschritt dar, wie ein Blick zurück in die Zeit vor rund zwei Jahrzehnten zeigt: Damals fielen die Leistungen im Inland geborener Kinder von Eingewanderten (zum Teil deutlich) schlechter aus als in den meisten anderen Hauptzielländern. Der Abstand zu den Kindern mit im Inland geborenen Eltern war mehr als doppelt so groß wie heute. Einer der Gründe mögen die Sprachförderungsprogramme hierzulande sein - explizit von der OECD gelobt - insbesondere in den Integrationskursen, die immerhin von mehr als der Hälfte der erwerbsfähigen Migrantinnen und Migranten genutzt werden. Mit einer großen Einschränkung: Es gebe immer noch zu wenig Sprachkurse für Asylsuchende, so die OECD. Die Organisation rät dringend, noch mehr in die Bildung und Sprachförderung von eingewanderten sowie von geflüchteten Kindern und Jugendlichen zu investieren. Vermutlich auch deswegen, weil junge Menschen, die hier erfolgreich eine Schule abschließen, die Lücken schließen könnten, die die Boomer-Generation in den kommenden zehn Jahren hinterlassen wird.
Ein alternativer Weg ist die gezielte Anwerbung von Fachkräften im Ausland. Wären da nicht die bekannten Probleme mit der Anerkennung ausländischer Schul- und Berufsabschlüsse. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz, dass die inzwischen historische Ampelregierung im März 2024 beschlossen hat, könnte jedoch ein Game Changer sein, meint zumindest das zuständige Bundesministerium für Forschung und Bildung (BMBF). Denn das Gesetz habe„Fachkräfteeinwanderung und Anerkennungsverfahren entkoppelt“, so das Ministerium. Im „nicht-reglementierten Bereich“ sei die Anerkennung nun unter bestimmten Voraussetzungen optional. Dieses Berufssegment definiert sich als „Restmenge“, wenn man den „reglementierten Bereich“ davon abzieht - damit sind zulassungspflichtige Handwerker gemeint, Ärztinnen und Apotheker, Pflegeberufe sowie unter anderem auch Lehrerinnen und Lehrer. Für all diese Gruppen bleibt die Anerkennung ihrer Berufsrespektive Bildungsabschlüsse obligatorisch. Das Ministerium zieht ein positives Zwischenfazit und stellt fest, dass es an dem Verfahren ein großes Interesse gebe: „Es wurden eine Vielzahl von Beratungen durchgeführt. Tausende von Anträgen wurden gestellt und die Mehrzahl davon mit einer vollen Gleichwertigkeit beendet.“ Die Zahlen, die das BMBF im vergangenen Oktober veröffentlichte, betreffen indes nur die Zeiträume vor der Verabschiedung des Gesetzes.
Daher nochmals ein Blick in den OECD-Text und seine Aussagen zu hochqualifizierten Geflüchteten - also Fachkräfte, die eigentlich recht schnell im hiesigen Arbeitsmarkt eine Stellung finden könnten. „In Deutschland sind hochqualifizierte Geflüchtete bei der Suche nach einer ihren Qualifikationen entsprechenden Beschäftigung mit mehr Hindernissen konfrontiert als in anderen Hauptzielländern“, schreiben die OECD-Forschenden.„Weniger als drei von fünf Geflüchteten mit Hochschulabschluss“ seien erwerbstätig. Und fast die Hälfte derjenigen, die eine Anstellung gefunden haben, sind in Positionen tätig, für die sie formal überqualifiziert sind.„Dagegen ist die Erwerbstätigenquote von Geflüchteten mit niedrigem und mittlerem Bildungsniveau mit der von Geflüchteten in der EU insgesamt vergleichbar.“ Ein schwacher Trost. Die kommende Bundesregierung kann hier schnell tätig werden. Aber nur wenn die Bundesländer mitziehen und die Kommunen unterstützen, die schlussendlich die Integrationskurse vor Ort organisieren müssen.
Horst Kramer
Erschienen im Tagesspiegel am 13.12.2024