München ist Deutschlands Stadt der Singles und damit auf Platz Eins der meisten Ein-Personen-Haushalte. Dies führt in Teilen nicht nur in hohem Alter zu Vereinsamung, auch jüngere Alleingebliebene oder Familien wünschen sich oftmals mehr gesellschaftliche Integration. An dieser Stelle setzt das neue Buch „Mut zum Miteinander! Gemeinsam bauen, wohnen und leben“ der Münchner Journalistin Heidi Rauch und des Ravensburger Historikers Dr. Wolfgang Eckart an. Warum das Buch nicht nur als Mutmach-Ratgeber verstanden werden soll, erläutert Heidi Rauch.
Frau Rauch, für Ihr Buch besuchten Sie eine Vielzahl an Wohnprojekten in Deutschland, Österreich und in der Schweiz. Gab es Erkenntnisse, die alle Konzepte eint?
Heidi Rauch: Ja, Engagement für die Gemeinschaft. Und nach dem Einzug: regelmäßige Veranstaltungen. Ein monatlicher Bewohner-Brunch stärkt die Gemeinschaft ebenso wie das gemeinsame Garteln oder Vorträge, Lesungen, Flohmärkte. Das Ergebnis ist eine hohe Zufriedenheit und Lebensqualität.
Sie porträtieren konkrete Baugemeinschaften unterschiedlicher Größenordnungen. Welche der gebauten Visionen haben Sie am nachhaltigsten beeindruckt und warum?
Gleis 21 in Wien, weil dieses Projekt als Verein vorbildlich mit Kultur-Angeboten ins Quartier hineinwirkt (Veranstaltungsraum mit Bühne, Musikschule, Atelier, Gastronomie). Aber ich finde es auch bewundernswert, wie Elisabeth Hollerbach in München die Wagnis-Genossenschaft mit inzwischen acht großen Wohngebäuden vor 25 Jahren ins Leben rief. Ihr als unbeirrbarer Pionierin habe ich in unserem Buch ebenso ein Denkmal setzen wollen wie Jutta Kämper in Berlin, die schon Ende der 1990er Jahre ihre Frauenwohnprojekte, inzwischen drei Beginenhöfe, vorangetrieben hat.
Sie verlegen den „Mutmach-Ratgeber“ selbst. Zu was genau wollen Sie denn Mut machen?
Mein Motto ist: Mut zur Veränderung. Dazu gehört auch, Bücher selbst zu verlegen. Große Verlage zeigten leider kein Interesse. So fing ich 2012 mit „Mut zur neuen Hüfte!“ in meiner Edition Rauchzeichen an. Fast alle meine Bücher drehen sich um eigene Erfahrungen. Bei „Mut zum Miteinander!“ möchte ich Mut machen, sich rechtzeitig um seine Wohnzukunft zu kümmern, um gegen Einsamkeit, mögliche Behinderung oder Hilfebedürftigkeit gewappnet zu sein.
Sie leben selbst mit Ihrem Mann seit Ende 2020 im ökologischen Mehrgenerationenhaus „Stadt-Natur“ in München-Riem und sind Teil einer Baueigentümer-Gemeinschaft. Was waren Ihre Beweggründe, sich für das Projekt zu entscheiden?
Wir haben zu zweit über 20 Jahre in einer gemieteten Doppelhaushälfte in Erding gewohnt. Ich liebe das Erdinger Land, aber fürs Alter - wir sind beide Ü60-wollten wir erstens Eigentum schaffen, zweitens näher an München heranrücken und drittens barrierefrei wohnen. Die Aussicht, schon in der Bauphase seine zukünftigen Nachbarn kennenzulernen, hat mich ebenso beflügelt wie dann das tatsächliche Miteinander bei allen Entscheidungen. Wir brauchten 75 Workshops in knapp drei Jahren und haben uns so alle mit unserem mittlerweile prämierten Passivhaus Plus verbunden.
Wie viele Parteien gehören dem Bündnis an und wie ließen sich die verschiedenen Vorstellungen der Eigentümer auf einen Nenner bringen?
Wir sind 35 Parteien mit inzwischen 29 Kindern. Wir hatten klare Vorgaben der Stadt München, von der wir das Grundstück gemeinsam erworben haben (Stichwort: Kostendeckel) und ebenso klare unseres Architekturbüros Vallentin. Der Holz-Hybrid-Baukörper mit seinen 100, 85 und 70 Quadratmeter großen Wohnungen, die alle nach Süden zum kleinen Stadtpark ausgerichtet sind, stand ebenso fest wie die Tiefgarage mit einem Stellplatzschlüssel von 0,7 oder die bodentiefen, dreifach verglasten Fenster. Auch bei der Inneneinrichtung standen im Sinne der Kostenoptimierung immer nur zwei bis drei Varianten zur Auswahl. Es gab bei allen Diskussionen stets Kompromissbereitschaft und schließlich Konsensentscheidungen. Beim wichtigen Thema Energie haben wir die optimale Lösung einer eigenen Energie GbR gefunden (Heizung mit Grundwasser-Wärmepumpe und Photovoltaik-Anlage) und so unsere Heizkosten minimiert.
Worauf müssen sich Nachahmende vorbereiten, würden sie gleiches Bauvorhaben realisieren wollen?
Offen sein für Diversität! Man gewinnt sehr viel durch Zulassen anderer Meinungen und den respektvollen Umgang miteinander. Die Schwarmintelligenz einer heterogenen Gruppe birgt ungeahnte Schätze an Wissen und Kompetenz. So ist es unserer Baugemeinschaft gelungen, unter den veranschlagten Baukosten zu bleiben und rechtzeitig bezugsfertig zu sein. Wenn sich viele einbringen, braucht man keinen Bauträger. Nötig ist ein starkes Architekturbüro, das sich mit einem guten Konzept gegen Alphatiere durchsetzen und Bedenkenträger überzeugen kann.
Das Interesse an gemeinschaftlichen Wohnformen ist groß. Welche Anlaufstellen gibt es, will man nähere Informationen?
In München gibt es etwa die Mitbauzentrale. Sehr empfehlen kann ich überregional die Stiftung Trias und den Bundesverband Baugemeinschaften. Eine gute Möglichkeit, bezahlbare Wohnungen zu finden, ist das Mietshäuser Syndikat.
Was würden Sie sich im Hinblick auf die zukünftige Wohnsituation in München wünschen?
Dass denkmalgeschützte Altbauten, die im Besitz der Stadt oder der Kirche sind, Genossenschaften zur Renovierung und Nutzung übertragen werden. Ein sehr schönes Beispiel in unserem Buch ist das Jahrhundertwende-Haus Blücherstraße 17 in Wiesbaden.
INTERVIEW: KELLY KELCH
Erschienen im Tagesspiegel am 02.11.2024