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Ein Modell mit Beispielcharakter

Menschen mit geistigen und/oder körperlichen Einschränkungen benötigen mehr medizinische Hilfe, da sie oft multimorbid sind. Foto: Adobe Stock

Forum Spitzenmedizin

Ein Modell mit Beispielcharakter

Professorin Tanja Sappok leitet die neue Universitätsklinik für Inklusive Medizin am Krankenhaus Mara in Bielefeld-Bethel

Sie hat seit Mitte 2022 den deutschlandweit ersten Lehrstuhl „Medizin für Menschen mit Behinderung, Schwerpunkt psychische Gesundheit“ an der Universität Bielefeld inne, seit 2023 leitet Professorin Tanja Sappok auch die neue Universitätsklinik für Inklusive Medizin am Krankenhaus Mara in Bielefeld-Bethel. „Menschen mit einer kognitiven Einschränkung sterben heute noch rund zwanzig Jahre früher als solche ohne“, so die Fachärztin für Neurologie, Nervenheilkunde, Psychiatrie und Psychotherapie. Um die Versorgungssituation zu verbessern, setzt die 54-Jährige auch auf den neuen Modellstudiengang an der Medizinischen Fakultät der Universität Bielefeld. Die Medizinstudierenden verknüpfen hier theoretisches Wissen direkt mit praktischen Erfahrungen im Klinikalltag. In Seminaren tauschen sie sich mit Menschen mit kognitiven Einschränkungen aus, so wecken die Experten in eigener Sache bei ihnen Sensibilität und Verständnis.

Frau Professorin Sappok, warum verdienen Menschen mit kognitiven Einschränkungen oder schweren Mehrfachbehinderungen in der Medizin mehr Aufmerksamkeit?

Sie ist die erste Lehrstuhlinhaberin im Fach „Medizin für Menschen mit Behinderung“: Professorin Tanja Sappok. Foto: Elke Schöps
Sie ist die erste Lehrstuhlinhaberin im Fach „Medizin für Menschen mit Behinderung“: Professorin Tanja Sappok. Foto: Elke Schöps

Professorin Tanja Sappok: Weil diese Personengruppe meist multimorbid ist. So leiden Menschen mit einer kognitiven Einschränkung im Schnitt unter zehn körperlichen Beschwerden, jeder Dritte hat zusätzlich eine psychische Erkrankung. Hier muss eine fachübergreifende ärztliche Versorgung sichergestellt werden. Zudem sind für die Abklärung und Behandlung von Menschen mit komplexer und schwerer Mehrfachbehinderung spezielle Rahmenbedingungen erforderlich. Weil ein guter Kontakt und eine gelungene Kommunikation das A und O für eine gute Behandlung sind, lernen unsere Medizinstudierenden die Anwendung alternativer Kommunikationsformen wie, Leichte Sprache' oder Methoden der ,Unterstützten Kommunikation'. Sie erleben vor Ort auch den Einsatz von Körper- und erlebnisbasierten Therapien für die Behandlung von Menschen mit kognitiven Einschränkungen. Die bedarfsgerechte Ausstattung, Setting und Behandlungsmethoden erleichtern den Genesungsprozess und vergrößern damit auch die Teilhabemöglichkeiten.

Wie sieht es um die Versorgungssituation hierzulande aus?

Weil die Versorgungssituation von Menschen mit kognitiven Einschränkungen oder schweren Mehrfachbehinderungen insgesamt schlecht ist, sollte die inklusive Medizin - anders als bisher - Bestandteil des Medizinstudiums werden. Es bedarf auch des Ausbaus der Regelversorgung und spezieller ambulanter Angebote. Gründe für die reduzierte Lebenserwartung sind neben der erhöhten Morbidität auch Barrieren beim Zugang zum Gesundheitswesen. Schwere Erkrankungen werden viel zu oft erst in der Notaufnahme entdeckt, Vorsorgeuntersuchungen zu selten wahrgenommen. Schwierig sind auch die zahlreichen Medikamente. Ich bekomme häufig Anrufe verzweifelter Angehöriger, die wissen möchten, an wen sie sich wenden können. Anlaufstellen sind beispielsweise die Bundesarbeitsgemeinschaft für Medizinische Behandlungszentren für Erwachsene mit Behinderung (BAG-MZEB) e.V. unter bagmzeb.de/bag-mzeb/ . Hier sind die bundesweit aktiven ambulanten Medizinischen Zentren für Erwachsene mit Behinderung (MZEB) aufgelistet. Spezialisierte stationär psychiatrische Angebote für Erwachsene mit intellektueller Behinderung finden Angehörige bei der Deutschen Gesellschaft für seelische Gesundheit bei Menschen mit geistiger Behinderung (DGSGB) unter dgsgb.de.

Wie kommt der von Ihnen entwickelte Modellstudiengang bei den Studierenden an?

Sehr gut, die Medizinstudierenden sind sehr interessiert an der Thematik und motiviert, sich für diese Personengruppe einzusetzen. Im Rahmen der Lehre setzten wir Menschen mit Lernschwierigkeiten als Dozierende in inklusiven Teams ein. Das berührt viele Studierende und intensiviert die Effektivität des Lernens.

Wie ergänzen sich Ihre Lehre und die von Ihnen geleitete Universitätsklinik für Inklusive Medizin?

Viele Lehrveranstaltungen wie Unterricht am Krankenbett oder Seminare finden in der Klinik statt. Generell hat der gesamte Unterricht immer einen großen Praxisbezug zum klinischen Kontext. Ob Praktika oder Famulaturen, die Studierenden lernen immer unmittelbar und gehen mit Neugier und Empathie auf die Menschen ein. Anfängliche Unsicherheiten können im geschützten Rahmen der Lehrveranstaltungen in der Regel gut aufgefangen werden. Der direkte Kontakt mit Menschen mit kognitiven Einschränkungen berührt die Studierenden emotional, das ist spürbar. Außerdem begegnen sie hier vielen sonst seltenen genetischen Syndromen und komplexen medizinischen Herausforderungen, und das ist auch intellektuell ein herausforderndes und interessantes Gebiet.

Welche Schwerpunkte setzen Sie bei Ihren aktuellen Forschungsprojekten?

Als Psychiaterin und Neurologin liegt mein Schwerpunkt bei psychischen Krankheitsbildern wie zum Beispiel Autismus-Spektrum-Störungen, Demenzen, Verhaltensstörungen oder Posttraumatische Belastungsstörungen. Erheblichen Forschungsbedarf gibt es zudem bei Tumorerkrankungen, hier ist das Interesse international sehr groß. Viele Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen kommen leider erst in einem sehr späten Stadium zu uns. Medizinische Assistenzsysteme zu entwickeln, um eine computergestützte, strukturierte Diagnostik und Therapie anbieten zu können gehört ebenso zur aktuellen Forschungsarbeit wie die Frage, wie die Chirurgie an die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit kognitiven Einschränkungen angepasst werden kann. Die Aufgaben wachsen, denn erfreulicherweise sprechen mich immer häufiger Kolleginnen und Kollegen aus anderen Fachrichtungen, Disziplinen und Berufen zu diesem Themenkomplex an. Auf diesem Wege entstehen viele neue Kooperationen und Netzwerke.

Wie können Mediziner passgenauer auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung eingehen?

Im Rahmen des Medizinstudiums vermitteln wir in Bielefeld die Besonderheiten in der Abklärung und Therapie von Menschen mit Behinderungen und geben den angehenden Ärztinnen und Ärzten Werkzeuge an die Hand, wie die medizinische Behandlung dieses Personenkreises gelingen kann. Schön wäre, wenn auch an anderen medizinischen Fakultäten weitere Lehrstühle zur Inklusiven Medizin folgen würden, um diese Inhalte flächendeckend zu vermitteln. Letztlich müssten im Anschluss an das Medizinstudium Weiterbildungsmöglichkeiten geschaffen werden, zum Beispiel in Form einer Zusatzqualifikation oder Facharztausbildung für inklusive Medizin. Gegebenenfalls gibt es in Deutschland nur die von der Bundesärztekammer zertifizierte Fortbildung, Medizin für Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung oder mehrfacher Behinderung', das zum Beispiel von der Ärztekammer Westfalen-Lippe angeboten wird.

Was bedeutet Ihnen die Arbeit für und mit Menschen mit Behinderung?

Ich genieße den unverstellten und ehrlichen Blick dieser Menschen. Sie sind eine Bereicherung für mich und natürlich auch für unsere gesamte Gesellschaft.

Interview: Ina Berwanger

Er­schie­nen im Ta­ges­spie­gel am 17.05.2024

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