Herz- und Kreislauferkrankungen sind in den westlichen Industrienationen die häufigste Todesursache. Welche vorbeugende Maßnahmen man selbst in den Alltag integrieren kann, erklärt der Unterschleißheimer Kardiologe und Notfallmediziner Dr. Wolfgang Otter (62).
Sind Ihre Patienten jünger oder älter?
Dr. Wolfgang Otter: Es sind überwiegend ältere Menschen, die kommen. Herz-Kreislauf-Erkrankungen können aber auch Junge betreffen, Stichwort: Herzmuskelentzündung nach Covid; häufig auch Vorsorgeuntersuchungen bei Sportlern.
Woran könnte das liegen?
Hier wirken verschiedene Einflussfaktoren zusammen. Die Arteriosklerose (Gefäßverkalkung) beispielsweise ist ein kontinuierlicher Prozess, der bereits in jungen Jahren beginnt und mit zunehmendem Alter fortschreitet. Beschleunigt wird die Erkrankung durch die Risikofaktoren Nikotin, Bluthochdruck, Diabetes mellitus, hohe Blutfettwerte, Übergewicht, mangelnde Bewegung, Stress und auch negative Umwelteinflüsse, wie Feinstaub etc.
Welche Rolle spielt dabei die Arbeitswelt?
Die moderne Arbeitswelt ist weniger durch körperliche Arbeit als durch Stress am Bildschirm geprägt. Auch in der Freizeit sitzen wir lange Zeit vor dem Fernseher oder dem Computer. Es gibt den plakativen Spruch „Sitzen ist das neue Rauchen“. Durch diesen Mix nehmen Übergewicht, Bluthochdruck, Stoffwechselstörungen wie Diabetes mellitus und hohe Blutfettwerte zu. Zudem werden die Menschen immer älter und somit insgesamt kränker. Circa 80 bis 90 Prozent aller Herzinfarkte sind durch vorhandene Risikofaktoren erklärt.
Wie kann man Vorsorge und Prävention in den Alltag integrieren?
Zunächst einmal muss die Aufmerksamkeit für dieses Problem geschärft werden. Durch entsprechende Medienberichterstattung, Aufklärung in den Schulen, am Arbeitsplatz, beim Arzt usw. Die „Deutsche Herzstiftung“ veranstaltet jeden November „Herzwochen“. Zusammen mit der VHS (Oberschleißheim) engagiere ich mich seit vielen Jahren bei diesen Veranstaltungen.
Kommt das Thema bei den Menschen an?
Es ist zu merken, wie das Interesse der Bevölkerung an diesem Thema zunimmt. Man muss allerdings aufpassen, dass man nicht nur die Menschen erreicht, die ohnehin für dieses Thema sensibilisiert sind. Ein erhobener Zeigefinger ist jedenfalls fehl am Platz. Eine gesunde Lebensweise ist halt nicht immer einfach, aber es gibt Unterstützung und Hilfsmittel.
Welche beispielsweise?
Die Kassenärztliche Vereinigung sieht einen kleinen Check-up alle zwei Jahre vor. Für „Gesunde“ ist das ausreichend. Risikogruppen oder gar Erkrankte müssen wesentlich engmaschiger untersucht werden, Hochrisikopatienten sogar ein- bis zweimal jährlich. Dazu gibt es beispielsweise „Disease Management Programme“ (DMP) für verschiedene chronische Krankheiten, zum Beispiel für koronare Herzerkrankung oder Diabetes mellitus.
Gibt es „die Mutter“ aller Präventionen?
Grundlage sind eine gesunde Ernährung, Bewegung, Gewichtsnormalisierung und bei Rauchern ein Rauchstopp. Die ,mediterrane Ernährung' beinhaltet fettarmes, kalorienreduziertes Essen. Wenig Fleisch, viel Gemüse und Obst. Wenn Fett, dann hochwertige, ungesättigte Fette in Olivenöl, Rapsöl, Leinöl und zweimal pro Woche Seefisch. Zudem Ballaststoffe in Vollkornprodukten, Hülsenfrüchten etc. Ungesalzene Nüsse vermindern zusätzlich das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Was sollte man auf alle Fälle meiden?
Fast Food und zuckerreiche Getränke sollten weitgehend vermieden werden. Sehr schade ist, dass wir in der Etikettierung der Lebensmittel so weit hinter manchen Nachbarländern hinterherhinken. Bewegung oder Sport sind enorm wichtig. Beides stärkt Herz und Kreislauf, senkt Blutdruck und Blutzucker, hilft beim Abnehmen und baut Stress ab.
Das klingt gut, scheitert aber häufig. Warum?
Hauptfehler dabei ist oft ein zu intensiver Beginn. Man sollte sich realistische Ziele setzen. Nichts ist demotivierender als Misserfolg, wenn zu hoch gesteckte Ziele nicht erreicht werden. Überanstrengung ist außerdem ungesund und verleidet den Spaß an der Bewegung, die dann nur als Quälerei empfunden und deshalb meist beendet wird. Andererseits ist nichts motivierender als Erfolg und Spaß.
Gibt es neue Erkenntnisse und Sichtweisen?
Früher dachte man, dass nur fünfmal 30 Minuten Ausdauersport pro Woche effektiv sind. Heute empfiehlt man zusätzlich auch leichten Kraftsport. Es hat sich gezeigt, dass auch kleine Bewegungseinheiten bereits einen positiven Gesundheitseffekt haben. Sie lassen sich zudem gut in den Alltag einbauen: eine Haltestelle früher aus dem Bus aussteigen, Treppen steigen etc. Gymnastik schützt Muskeln und Gelenke, verbessert bei älteren Menschen die Gangsicherheit und die Mobilität. Bewegung stärkt mittelfristig das Immunsystem und die Psyche, reduziert Osteoporose und das Sturzrisiko. Aktuell erlebt der Vereinssport eine erfreuliche Renaissance. Wer neu mit Sport beginnen will, sollte vorher mit seinem Arzt sprechen, eventuell ist ein Belastungs-EKG erforderlich. Das gilt auch für das Abklären von Risikofaktoren.
Viele Anzeichen für Herz-Kreislauf-Erkrankungen werden unterschätzt. Worauf sollte man achten?

Alarmsignale sind auf jeden Fall Druck, Brennen, Engegefühl im Brustbereich, besonders, wenn die Zeichen bei körperlicher Belastung zunehmen. Das kann man sich vorstellen, wie wenn ein Gewicht auf der Brust liegt' oder ,ein Ring, der sich um den Brustkorb zuzieht', die sogenannte ,Angina pectoris'. Dann sollte man unbedingt einen Arzt aufsuchen. Treten derartige Beschwerden allerdings akut auf und dauern länger als fünf Minuten an, sollte man nicht zögern und sofort den Rettungsdienst alarmieren. Europaweit gilt dafür die Telefonnummer 112 ohne Ortsvorwahl, auch aus dem Handynetz. Mit diesen Beschwerden auf keinen Fall bis zum nächsten Morgen oder bis nach dem Wochenende warten. Das Herz ist ein faszinierendes Organ, es hat sehr viele Sicherungsmechanismen, die es ihm ermöglichen, weitgehend problemlos und unbemerkt täglich mehrere tausend Liter Blut durch den Körper zu pumpen. Aber es hat eben auch Grenzen.
Funktioniert das Zusammenspiel von Hausarzt und Spezialist?
In dem Bereich, den ich überblicken kann, funktioniert das Zusammenspiel sehr gut. Bei uns gibt es beispielsweise einen Qualitätszirkel für die bereits genannten DMP-Programme, in den Bereichen Koronare Herzerkrankung (Herzinfarkt und Vorstufen), Diabetes mellitus und COPD/Asthma Bronchiale. Im Moment entsteht auch ein DMP Herzinsuffizienz.
Interview: Rudi Kanamüller
Erschienen im Tagesspiegel am 17.05.2024