Die Immobilien- und Baubranche erfährt seit den letzten Jahren einen Wandel, den es in dieser Dynamik selten zuvor gab. Multiple Aufgaben initiieren auf verschiedenen Ebenen ein notwendiges Handeln, das in seiner Komplexität oftmals eines großen Aufwandes bedarf. Zuvor sollte man sich deshalb über die wichtigsten Trends im Klaren sein. Hilfreich ist etwa das Thesenpapier des auf Bau- und Immobilienwirtschaft spezialisierten Beratungsunternehmens Drees & Sommer. Benannt werden zehn Tendenzen, die entweder bereits die Gegenwart tangieren oder in Kürze, beziehungsweise in zehn Jahren zu erwarten sind. Der Überblick der aufgeführten Technologietrends und Zukunftsszenarien bietet der Bau- und Immobilienbranche eine Inspirationsquelle für neue Geschäftsmodelle und Handlungsnotwendigkeiten.
1. Klimapositiv & kreislauffähig
Die gebaute Umwelt sowie ihre Bestandsgebäude sollen klimapositiv und die Neubauten nach dem Cradle-to-cradle-Prinzip umgesetzt werden. Die klare Tendenz geht zur Sanierung von Bestand, statt dem bisher bevorzugten Abriss. Ein Umdenken der Branchen setzte bereits ein. Schlüsselbegriffe lauten diesbezüglich Wiederverwertung, nachhaltige Kreislaufwirtschaft der Baukomponenten, Digitalisierungsstrategie und Modularität.
2. Transformation der Energiewirtschaft
Das klar ausgelegte Ziel kann nur eine geringstmögliche Kohlendioxid-Belastung mittels vollständiger Dekarbonisierung sein. Das impliziert den Weggang linearer Energieanwendung hin zu regenerativen Energieströmen. Die Umsetzung könnte durch eine gut ausgebaute lokale und autarke Infrastruktur inklusiver Speichersysteme gelingen, die eine reibungslose Energieversorgung für die unterschiedlichen Energieformen gewährleisten. Wasserstoff sei ein zentraler Wegweiser zukünftiger Energieangebote.


3. Smart City & Mobilität
Unter einer Smart City ist nicht nur die ausgefeilte Vernetzung einer Stadtentwicklung einschließlich Mobilität, Gesundheitswesen, Industrie, Energie, Migration bis hin zu Umweltschutz und Klimawandel zu verstehen. In den Mittelpunkt rückt vor allem der Mensch, der von einer klugen Städteplanung partizipiert. Erstmals fällt der Begriff „Soulware“ und versinnbildlicht eine Synergie von Menschlichkeit und Technologie. Hinsichtlich Mobilität wird in zehn Jahren eine Entwicklung hin zu einem flächendeckenden Angebot alternativer Fortbewegungsmittel erwartet. Auch die 15-Minuten-Stadt soll bis dahin Standard sein.
4. Multi-Use & Wandlungsfähigkeit
Gegenwärtig ist die Tendenz erkennbar, dass neue und flexible Nutzungskonzepte in den Gebäuden Einzug halten. Einerseits ist eine Durchmischung zu verzeichnen, die Wohnen, Arbeiten, Leben, Hotel und Einzelhandel vereint. Andererseits reagieren Unternehmen auf die sich rasant verändernde New-Work-Bewegung und die damit einhergehende Büro-Flächennutzung. In den kommenden Jahren verstärkt sich daher der Fokus auf Immobilien, die mehrere Nutzungsangebote und flexible Flächenstrukturen aufweisen.
5. Open-Source-Building-Kataster & Smart Data
Eine Zukunft ohne Daten im Gebäudesektor ist nicht mehr denkbar. Im Thesenpapier spricht man vom digitalen Open-Source-Building-Kataster - einer frei verfügbaren digitalen Datenbank, die in einer sogenannten „Real-Estate-Cloud“ organisiert und in Echtzeit minutenaktuell abgerufen werden kann. So lässt sich der gesamte Lebenszyklus des Gebäudes einsehen und darauf entsprechend reagieren. Das betrifft etwa notwendige Instandhaltungsmaßnahmen oder überflüssige Verbräuche.
6. Click & Deliver
In diesem Zusammenhang bilden Künstliche Intelligenz in Kombination mit einer klugen Planungssoftware den Schlüssel für eine schnelle Entwurfspraxis von Gebäuden. Was früher Tage, manchmal Wochen dauerte, lässt sich heute in wenigen Stunden oder gar Minuten erzeugen. Die Rede ist von einem virtuellen Gebäude, das mit entsprechender Technik (Virtual-Reality-Brille) begehbar und zugleich im Entwurf änderbar ist. Auch Kosten, der Carbon-Wert sowie Lieferinformationen werden gleich im Hintergrund durch eine KI während der Planung ausgerechnet.


7. Autarke Baustelle
Das Zeitalter der autonomen Baustelle hat begonnen. In diesem Fall übernehmen Maschinen und Roboter Aufgaben ohne menschliches Zutun. Im Einsatz sind beispielsweise Drohnen, Kräne, Roboterhunde oder autonome Bagger. Ihr Einsatz dient einer höheren Produktivität, Sicherheit, Effizienz und Fehlervermeidung. Insbesondere die Baustellenüberwachung ist federführend, aber die Ausweitung in andere Einsatzbereiche nimmt schnell zu.
8. Self-Organized Property & Asset Management
Das mitdenkende Haus entwickelt sich seit der Etablierung des Smart Homes zum Standard. Die Angebote digitaler Services werden jedoch immer ausgereifter und erfüllen zusehends nutzerorientierte Bedürfnisse in einfacher Weise. Gewonnene Daten geben den Bewohnern ein eigenes Facility-Management an die Hand, mit dem sie die Immobilie wirtschaftlicher und effizienter betreiben können. So wird ein Gebäude in zehn Jahren technische Mängel erkennen, Schäden vorgreifen und direkt den Technikdienst bestellen.
9. Geschäftsmodelle durch virtuelle Welten
Unter diesem Punkt fließen alle Aspekte des Metaverse ein. Übergreifend kann man sagen, dass es sich um einen virtuellen Raum handelt, in dem real existierende Problemstellungen gemeinsam gelöst und damit ganze Prozessketten im Entstehen eines Gebäudes verschlankt werden. Planer legen in naher Zeit dem Kunden zwei Entwurfsarbeiten vor - zuerst das virtuelle Konzept, auf dem später das tatsächlich gebaute Haus ganz nach Bauherrenwunsch folgt. Das Metaverse bietet zugleich eine Plattform für weltweiten Austausch, Fortbildungen und kreatives Ausleben von Gebäuden.
10. Alles bleibt anders
Der letzte und für die Experten zugleich wichtigste Punkt steht unter der Devise: Nur stetig ist der Wandel. Die Offenheit, sich Neuem zuzuwenden, sehen sie als essenziell und umsichtig an. Mit den zehn Thesen im Blick weitet sich der Horizont, welche Aufgaben auf die Branche warten und dringend anzugehen sind. KELLY KELCH
Erschienen im Tagesspiegel am 20.01.2024