○ft beginnt es ganz subtil: mit einem Sofa mit samtigem Bezug, einer Wand mit strukturierter Tapete oder einer Arbeitsplatte aus unbearbeitetem Naturstein. Plötzlich streicht die Hand magisch angezogen von selbst darüber. Auch barfuß gibt es oft solche Erlebnisse – die Maserung von Holz oder die Rauigkeit von Fliesen fühlen sich einfach wunderbar an: Das ist der Zauber der Haptik.
Vielleicht ist der Trend zu mehr Gefühl unserer aktuellen Zeit geschuldet – die sich zunehmend digital anfühlt und in der glatte Glasflächen unsere Städte dominieren. So wächst eine stille Gegenbewegung: das Bedürfnis nach Materialität, besonderer Textur und Berührung. Haptisch interessante Oberflächen sind deshalb nicht nur visuelle Statements, sondern schaffen auch eine sinnliche Dimension, die Räume emotional auflädt und Menschen physisch mit ihrer Umgebung verbindet.


Denn taktile, also über Berührung ausgelöste Reize rufen unmittelbare emotionale Reaktionen hervor: Glatte, kalte Flächen wirken präzise, aber distanziert. Warme, weiche Texturen signalisieren dagegen Geborgenheit. Interessant ist zudem, dass auch die visuelle Komponente hier eine große Rolle spielt: „Der ganze Raum wird ständig vor allem mit Hilfe der Augen ertastet. Ziegelstein, Marmor, Sandstein, Rauputz, Beton, Stahl, Glas, Plastik, Holz oder Textil unterscheiden sich als schon bei der inneren Vorerfahrung im visuellen Bereich durch die Art ihrer Tast-Lebendigkeit, durch die Vielseitigkeit und Abwechslung in der Tastqualität“, beschreibt es der Gestalter Wulf Schneider in seinem Werk „Sinn und Un-Sinn“. Es ist fast so, als ob Unebenheiten archaische Erinnerungen wecken und eine Verbindung zu Handwerk, Landschaft und Geschichte schaffen.
Atmosphäre durch Material
Architekten nutzen diese unbewussten Wirkungen gezielt, um über Materialität Atmosphären zu inszenieren: Bauten mit Natursteinfassaden mit reliefartigen Strukturen, handgeformte Klinker oder speziell bearbeitete Betonoberflächen sind interessanter als glatte Oberflächen und laden richtiggehend zum visuellen wie haptischen Ertasten ein. Auch im Interieurdesign setzen Gestalter zunehmend auf kontrastreiche Materialkombinationen: Samtige Veloursstoffe neben rauem Leinen, geölte Hölzer mit sichtbarer Maserung neben kühl gebürstetem Edelstahl sind gezielt haptische Reize, um einem Entwurf Tiefe zu verschaffen. Selbst bei minimalistischen Interieurs erzeugen sie das gewisse Etwas – beispielsweise über feine Putzstrukturen, taktile Wandpaneele oder Teppichböden mit skulpturalem Flor.
Hinzu kommt, dass auch der Lichteinfall beim visuellen „Ertasten“ eines Raums eine große Rolle spielt und so ein Boden aus rauem Travertin komplett anders wirkt als geölte Eichendielen. Ebenso wirkt ein roher Betonwandabschnitt bei weichem Streiflicht völlig anders als bei frontalem Tageslicht.
Gelungene Entwürfe sind von einem tiefen multisensorischen Raumverständnis geprägt – und können noch eine weitere Komponente miteinschließen: Farbe. Als architektonisches Werkzeug zoniert sie Räume, bringt Tiefe und setzt visuelle Spannungen – oder löst sie bewusst auf. Satte, dunkle Farben erden den Raum, während helle Naturtöne für Leichtigkeit sorgen. Überraschend eingesetzte Farben – wie kräftige Rottöne etwa in Badezimmer-Interiors – sprechen ebenfalls unser visuelles Empfinden an.


Alles in allem sind besondere Oberflächen kein dekorativer Luxus, sondern essenzieller Bestandteil einer Architektur, die menschliche Sinne positiv beeinflusst. Und so haben viele Hersteller dieses Thema verstärkt im Fokus: Gemütliche Lesesessel werden mit Bouclé überzogen, Teppiche in verschieden hohen Floren gewebt oder Tapeten mit erhabenen Mustern gefertigt. Besonders verarbeitete Oberflächen bei Küchenfronten mit Rillenstruktur machen auch Küchen zum Hingucker. Moderne Fertigungsverfahren wie CNC-Fräsen, 3D-Druck oder Wasserstrahlschneiden erlauben heute haptische Designs, die früher nur durch aufwendige Handarbeit möglich waren – und somit auch viel erschwinglicher geworden sind.
BARBARA BRUBACHER
Erschienen im Tagesspiegel am 06.09.2025